Nino Schurter schreibt am Heim-Weltcup in Lenzerheide sein nächstes Mountainbike-Märchen. Der 37-jährige Bündner erringt unweit seines Wohnortes den historischen 34. Weltcupsieg.
Lässt sich dieser 8. September 2018 noch toppen, der Triumph an der WM in Lenzerheide vor dieser einmaligen Kulisse mit eigenen Fans in grosser Überzahl, in dieser unvergesslichen Atmosphäre? Bislang stand jener Erfolg auf Nino Schurters langer Liste der schönen Karriere-Momente zuoberst, noch vor dem Olympiasieg 2016 in Rio de Janeiro. Aber jetzt, nach diesem zwischenzeitlich nur noch schwer greifbar gewesenen 34. Weltcupsieg an seinem Kraftort in den Bündner Bergen unweit seines Wohnortes in Chur räumte der Altmeister ein: «2018 war top, aber das heute toppt es vielleicht noch.»
Er müsse zwei-, dreimal darüber schlafen, um es abschliessend einordnen zu können, erklärte Schurter. Klar ist, was sich an diesem Sonntag am Fuss des Rothorns abspielte, war, wie er es selbst umschrieb, das nächste «perfekte Märchen» in seiner glorreichen, mit so vielen Highlights gespickten Karriere: «Der Erfolg, die Emotionen, die Vorgeschichte – das alles macht es extrem speziell», so Schurter.
Ein Jahr nach dem so bitteren wie aufsehenerregenden Zusammenstoss mit Mathias Flückiger im Kampf um den Sieg triumphierte Schurter ein drittes Mal in seinem Heimrennen im Weltcup – nach einem Solo über fast die halbe Renndistanz und einem Schockmoment in Form eines Sturzes wenige hundert Meter vor dem Ziel abseits der Kameras, 15 Sekunden vor dem Südafrikaner Alan Hatherly und dem Franzosen Jordan Sarrou, zwei Tage nach einem glimpflich verlaufenen Sturz im Short Race, einen Tag nach einem emotionalen Ausbruch im Bewusstsein der bevorstehenden Derniere an seinem magischen Ort.
Das vielleicht wichtigste Rennen vor dem Rücktritt
Auf dem Papier war es «nur» ein Weltcuprennen. Für Schurter war es das womöglich wichtigste vor dem Rücktritt, «vielleicht sogar wichtiger als die WM», wie Schurters Teamchef Thomas Frischknecht befand.
Fast drei Jahre lang war der langjährige Dominator zwischen 2019 und 2022 im Weltcup ohne Sieg geblieben. Der Zahn der Zeit begann auch an einem Ausnahme-Athleten wie ihm zu nagen. Doch Schurter erhob sich, wie es sich für die grossen Champions gebührt, noch einmal und kehrte auf den Thron zurück. Im Vorjahr errang er im brasilianischen Petropolis den 33. Sieg im Weltcup, mit dem er die Bestmarke seines früheren französischen Rivalen Julien Absalon egalisierte. Dazu sicherte er sich noch einmal den Gesamtweltcup und, zum zehnten Mal, den WM-Titel.
Nun setzte er seiner Karriere «das i-Tüpfelchen» (Schurter) auf, bezeichnenderweise an seinem magischen Ort, diesmal vor 12'000 Zuschauern. «Ich hatte mir den Tag gross angestrichen. Weil ich wusste, dass ich noch einmal die Chance auf den Sieg habe – den 34., hier vor Heimpublikum.» Dass es wohl sein letzte Gelegenheit in Lenzerheide sein würde, weil die Station 2024 nicht im Kalender figuriert und dessen Zukunft im Weltcup im Zuge des neuen Broadcasters ungewiss ist, bestärkte die Entschlossenheit zusätzlich – wie auch die Absenz der beiden sportlichen Schwergewichte Thomas Pidcock und Mathieu van der Poel.
Risiko belohnt
Regenschauer, die kurz dem Start einsetzten, verliehen dem Rennen eine besondere Würze. Und stellten die Athleten vor knifflige Material-Entscheide. Schurter ging all-in, setzte auf die schnellsten Reifen mit dem wenigsten Grip, die kaum grössere Regengüsse vertragen hätten. Und es ging auf. «Es ist genau so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt habe. Auch wenn ich vielleicht etwas gar früh alleine unterwegs war vorne», sagte er.
Kurzzeitig bildete Schurter mit Flückiger ein Spitzenduo, was Erinnerungen ans Vorjahr weckte, an den Vorfall im Zauberwald, den fatalen Zusammenstoss mit Landsmann Flückiger. Doch früh fuhr Schurter dem nächsten Karriere-Meilenstein alleine entgegen, unaufhaltsam, durch nichts mehr zu bremsen, getragen von den Fans, die ihm «wieder einmal Flügel verliehen».
Noch ergriffener als der Sieger war Thomas Frischknecht, Schurters langjähriger Begleiter und vormalige Nummer 1 im Schweizer Mountainbike-Sport, der schon während der letzten paar hundert Meter seines Schützlings von den Emotionen übermannt wurde. «So aussergewöhnlich Nino ist, so wenig konnte er mit dem fortschreitenden Alter damit rechnen, dass er diesen 34. Sieg noch schafft. Eigentlich wäre es der perfekte Zeitpunkt, um aufzuhören», meinte Frischknecht. Der perfekte Zeitpunkt auch für Schurter? Nein. Schurters Replik war folgende: «Aufhören musst du, wenn es keinen Spass mehr macht. Mir macht es immer noch unheimlich viel Spass – auch wenn es so anstrengend ist.»