Sepp Stalder war einer der besten Kunstturner seiner Zeit. Seine Wertschätzung stellte der Olympiasieger und Weltmeister zwischenzeitlich selber auf die Probe.
Olympiasiege machen den Eintrag in die Geschichtsbücher zum Selbstläufer. Die höchste sportliche Weihe garantiert «Unsterblichkeit», wie es so schön heisst. Karrieren von Spitzenathleten werden über Erfolge im Zeichen der fünf Ringe definiert. Die Erfahrung, dass die olympische Bewegung Nebenwirkungen haben kann, hat auch Sepp Stalder machen müssen.
Olympische Gütesiegel hatte sich Stalder mehrere gesichert. Der im März 1991 im Alter von 72 Jahren verstorbene Luzerner nahm zweimal an Olympischen Spielen teil – und kehrte beide Male hoch dekoriert zurück. Höhepunkt war der Sieg am Reck 1948 in London. Dazu gewann er in Grossbritanniens Hauptstadt Silber mit der Mannschaft und Bronze am Barren. Vier Jahre danach in Helsinki stellte er seine Sonderklasse als Allrounder mit je zwei silbernen und bronzenen Auszeichnungen erneut unter Beweis.
Neues Element ein Zufallsprodukt
1948 fanden spezielle Spiele statt, die ersten nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch Stalder wartete mit einer Besonderheit auf. Am Reck zeigte er ein neues Element, das seither seinen Namen trägt, die «Stalder-Grätsche». «Das Seltsame war, dass über das neue Übungsteil nicht gesprochen wurde. Der Wert der Neuheit spiegelte sich lediglich in der hohen Bewertung wider», sagte der Innerschweizer später einmal. «Auch ich selber war mir nicht bewusst, etwas Spektakuläres fürs Turnen vollbracht zu haben.» Das Element war einem Zufall entsprungen. Die Idee lieferte Stalders Vereinskollege beim BTV Luzern, Walter Rudin, der beim Grätsch-Umschwung mit den Füssen von der Stange rutschte und unfreiwillig einen Umschwung turnte. Stalder führte die Grätsche vom und zum Handstand.
Stalder hatte nicht die Strahlkraft seines langjährigen Teamkollegen Jack Günthard, der nach seinem Rücktritt als Nationalcoach Italiens und der Schweiz Spuren hinterliess und als «Vorturner der Nation» in den Siebzigerjahren mit seinen Sendungen «Frühturnen mit Jack» auf Radio Beromünster und «Fit mit Jack» im Fernsehen Kultstatus erlangte. Während seiner Aktiv-Zeit stand der Luzerner in Sachen Popularität dem Zürcher aber in nichts nach. Zwei Jahre nach dem Olympiasieg erreichten die Werte neue Rekordhöhen. An den Weltmeisterschaften in Basel sicherte sich Stalder die Titel mit dem Team, am Boden und am Pauschenpferd und zudem Bronze am Reck. Einziger Wermutstropfen war das verpasste Gold im Mehrkampf. Als Favorit musste er sich, geschwächt durch ein Nervenleiden, mit Platz 6 bescheiden.
Stalder hatte vor seinem Rücktritt eine dritte Teilnahme an Olympischen Spielen geplant. Noch einmal wollte er den aufstrebenden Konkurrenten aus der Sowjetunion und Japan die Stirn bieten. Er glaubte daran, der von den Sowjets in Helsinki losgetretenen Welle noch einmal widerstehen zu können. Die Spiele im hohen Norden hatten die Wende in der globalen Hierarchie des Kunstturnens aufgegleist. 30 Jahre nach der Staatsgründung und ein Jahr nach dem Beitritt zum Internationalen Olympischen Komitee entsandte die Sowjetunion erstmals Athleten an Sommerspiele – und die Turner aus dem Riesenreich räumten gleich im grossen Stil ab. Mit je fünf goldenen und silbernen und einer bronzenen Auszeichnung waren sie die Nummer 1 vor der Schweiz.
Der Boykott-Befürworter
Aus Stalders Absichten wurde nichts. Die Politik machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Der Einmarsch der Sowjet-Armee in Ungarn zur Niederschlagung des Volksaufstandes Anfang November 1956, zweieinhalb Wochen vor Beginn der Spiele in Melbourne, bewog den Eidgenössischen Turnverein ETV zum Boykott. Der ETV, dank mehreren Athleten mit Medaillenchancen eine Sektion mit Gewicht, stand mit seinem Entscheid alleine da, denn die Verbände der Leichtathleten, Schwimmer, Ruderer, Schützen, Fechter und Fünfkämpfer wollten von einem Verzicht nichts wissen. Der Beschluss des Schweizerischen Olympischen Komitees, die beschwerliche Reise nach Australien nur mit Delegationen aller Verbände anzutreten, änderte an der Meinung des ETV nichts. Die ersten Spiele in der südlichen Hemisphäre fanden ohne Schweizer Beteiligung statt.
Seinen Anteil am Entscheid hatte auch Stalder. Er war einer der grössten Befürworter des Verzichts und stellte bei seiner Begründung die politische Verantwortung der Schweiz in den Mittelpunkt. Stalder bekam die Quittung umgehend präsentiert. Die meisten Sportler anderer Verbände reagierten mit Abneigung, der Zwist griff auf die Öffentlichkeit über und brachte massive Anfeindungen mit sich, die sogar in Morddrohungen gipfelten.
Die Bürde des Geächteten musste Stalder viele Jahre tragen. Irgendwann siegte bei den verhinderten Olympia-Teilnehmern dann aber doch die Vernunft über die Wut und den Ärger. Die Aussöhnung setzte dem dunklen Kapitel ein Ende. Stalder konnte endlich aufatmen. Er war nicht mehr der Querulant. Er war wieder der Olympiasieger.