Die Dressurreiterin und Goldhoffnung Christine Stückelberger bestreitet am zweitletzten Tag der Olympischen Spiele 1976 in Montreal den letzten Einsatz der Schweizer Delegation – und reüssiert.
Für den Laien lassen sich aufgrund der TV-Bilder von Montreal der Druck, die Qualität der Vorführung und die Emotionen nur erahnen. Auf dem Rücken von Granat trägt die damals 29-jährige Bernerin ihre Kür vor, die TV-Experten loben die Passagen, Piaffen, Traversalen oder Übergänge, bleiben im Ton aber nüchtern. Und nach einem Dressurritt wird im Viereck nicht gejubelt wie nach einem Tor im Fussball, einem Sieg im 100-m-Lauf oder einem verwerteten Matchball im Tennis.
Die Berner Arzttochter reitet nach ihrer Darbietung Richtung Stall, verschwindet auf dem Rücken ihres Wallachs aus dem TV-Bild, wird von Reportern gesucht und verpasst beinahe noch die Siegerehrung. Die Enkelin von Alt-Bundesrat Eduard von Steiger musste untertauchen, allein sein. Es galt das soeben Geschehene zu verdauen, die Emotionen übermannten sie.
Sportlerin des Jahres
Die ganz speziellen Glücksbringer hatten ihren Dienst erfüllt: 16 vierblättrige, getrocknete und gepresste Kleeblätter, die Christine Stückelberger kurz vor Abflug in der Schweiz auf einer Wiese vor dem Haus ihres Vaters gefunden hatte, nahm sie mit nach Kanada.
Mit der Goldmedaille von Stückelberger endete für die Schweiz eine Durststrecke an Olympischen Sommerspielen. Die zuvor letzte Goldmedaille an Sommerspielen wurde 1964 in Tokio von Henri Chammartin gewonnen, ebenfalls in der damaligen Schweizer Paradedisziplin Dressurreiten. Für ihre starke Leistung in Montreal wurde die Olympiasiegerin von den Schweizer Sportjournalisten zur Sportlerin des Jahres 1976 gewählt.
Stückelberger ist eine Ikone des Schweizer Dressur-Reitsports – noch in Sydney 2000 trat sie zu den Olympischen Spielen an, nachdem sie auch 1988 in Seoul Bronze geholt und mit dem Team 1976, 1984 und 1988 Silber gewonnen hatte. Doch die wichtigsten und wertvollsten ihrer rund 40 Medaillen ritt sie mit ihrem Ausnahmepferd Granat ein. Fünf Jahre, von 1974 bis zur EM 1979, blieb die Schülerin und Lebenspartnerin von Trainer Georg Wahl in sämtlichen Dressurvierecken der Welt unbesiegt.
«Ich wünsche, dass meine Medaillen gut aufgehoben sind»
Granat, ein auf dem rechten Auge blindes Springpferd, wurde von Wahl – er war mehrere Jahre Oberbereiter der Spanischen Hofschule in Wien – entdeckt und geformt. Es gelang ihm, den Granat zu einem glitzernden Diamanten zu schleifen. Christine Stückelberger spricht in Interviews, wie sie einst in der «PferdeWoche» erklärte, immer von Herrn Wahl. «Natürlich haben wir uns im Haus, Stall und im engen Pferdezirkel geduzt. Aber ich spreche in der Öffentlichkeit von Herrn Wahl aus Hochachtung vor dieser einmaligen Person. Er war ein herausragender Pferdefachmann und trotz seiner Strenge und eisernen Disziplin ein herzensguter Mensch. Er wird stets in meinem Herzen bleiben.» Wahl starb vor knapp sieben Jahren im 94. Altersjahr.
Von ihren Medaillen hat sich die seit langem im Toggenburg wohnhafte Reiterin getrennt. Sie liegen in der Olympia-Sammlung des Museums von Markus Osterwalder in Herisau. «Ich wünsche, dass meine Medaillen gut aufgehoben sind und der Nachwelt erhalten bleiben, wenn mir einmal etwas zustösst. Ich habe ja keine Nachkommen», sagte sie vor drei Jahren im Interview mit der «PferdeWoche» anlässlich ihres 70. Geburtstages.