Vom Fussballtalent zum Rad-Weltmeister Remco Evenepoel auf den Spuren von Eddy Merckx

sda

27.9.2022 - 08:30

Krönung eines unaufhaltsamen Aufstiegs: Remco Evenepoel erfüllte sich mit dem WM-Titel einen Traum.
Krönung eines unaufhaltsamen Aufstiegs: Remco Evenepoel erfüllte sich mit dem WM-Titel einen Traum.
Keystone

Mit dem WM-Titel erreicht Remco Evenepoel neue Dimensionen. Der belgische Jungstar wandelt auf den Spuren seines legendären Landsmanns Eddy Merckx – dabei sollte er gar nie Veloprofi werden.

27.9.2022 - 08:30

Nur vier Jahre, nachdem er in Innsbruck Junioren-Weltmeister wurde, steht Remco Evenepoel am Sonntag mit erst 22 Jahren auch bei der Elite ganz zuoberst auf dem Podest einer Strassen-WM. Dabei waren die Eltern bis zu seinem 17. Lebensjahr davon überzeugt, dass ihr Sohn einst Profifussballer werden würde. Als vielversprechender Mittelfeldspieler durchläuft er die Ausbildungszentren von Anderlecht und PSV Eindhoven. Er fällt dort schon durch seine aussergewöhnliche Physis und seine starke Persönlichkeit auf.

Halbmarathon als Erholungsprogramm

Eine Anekdote fasst den aussergewöhnlichen Charakter des jungen Remco wunderbar zusammen. Als Stéphane Stassin, sein damaliger U16-Trainer in Anderlecht, im Oktober 2016 am Halbmarathon in Brüssel teilnahm, wurde er zu seiner Überraschung von seinem jungen Spieler überholt. «Ich sah ein paar Kenianer vorbeiziehen und dann den jungen Remco, der wohl an 7. oder 8. Stelle lief. Wir hatten am Vortag gespielt, und ich hatte den Spielern gesagt, dass sie sich ausruhen sollten. Aber offenbar machte es ihm nichts aus, ein ganzes Spiel in den Beinen zu haben, bevor er einen Halbmarathon lief», erinnert sich Stassin im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP.

Aber auch wenn der junge Spieler über aussergewöhnliche athletische Fähigkeiten verfügt, fehlt es ihm auf dem Fussballrasen dennoch an Technik und vor allem an Explosivität. Immer mehr macht ihm auch die räumliche Distanz zu seiner Familie zu schaffen. Er verliert die Freude am Spiel, und eine Verletzung bringt ihn an den Rand einer Depression.

Nichts hält ihn auf

Im Frühjahr 2017 entscheidet er sich, alles hinzuschmeissen, um eine Karriere im Radsport anzustreben. Die Erfolge auf dem Velo stellen sich schnell ein. Zwischen Mai und September 2018 nimmt er an 38 Junioren-Rennen teil und gewinnt 28 davon, darunter jeweils die Strassenrennen und die Zeitfahren der belgischen Meisterschaften, der Europameisterschaften und der Weltmeisterschaften. Die Erwartungen an den «kleinen Kannibalen», den die belgische Presse gerne mit Eddy Merckx vergleicht und dem man die schönsten Erfolge bei den grossen Rundfahrten verspricht, sind enorm.

Doch Evenepoel macht dies nichts aus. Er hat es auch bei den «Grossen» eilig und gewinnt in seiner ersten Profisaison 2019 mit der Clasica San Sebastian, einem der härtesten Eintagesklassiker, sogleich ein World-Tour-Rennen. Dies trägt ihm den Übernamen «das Phänomen» ein. Mit dem Gewinn von WM-Silber im Zeitfahren zum Ende der Saison 2019 setzt er eine rasante Entwicklung fort. Nichts und niemand kann ihn aufhalten, nicht einmal ein schrecklicher Sturz an der Lombardei-Rundfahrt 2020 mit einem Beckenbruch und einer Lungenquetschung, die ihn seine Karriere hätte kosten können.

Nach einer mehrmonatigen Pause und einer durchwachsenen Saison 2021 setzt er sich dieses Jahr wieder grosse Ziele, und verfehlt keines davon. Er triumphiert im Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich, gewinnt vor zwei Wochen mit der Vuelta als erster Belgier seit 44 Jahren wieder eine grosse Landesrundfahrt und schliesst seine traumhafte Saison mit einem eindrücklichen Solo und dem Gewinn des Weltmeistertitels ab.

Seltenes Triple

Unter all diesen Heldentaten zog Evenepoel am Sonntag mit drei Radsportlegenden gleich, als er sich in der australischen Hafenstadt Wollongong das Regenbogentrikot überstreifte. Der Flame ist erst der vierte Fahrer in der Geschichte, der im selben Jahr ein Monument (einen der fünf Klassiker), eine Grand Tour und den WM-Titel gewonnen hat. Vor ihm war dies einzig dem Italiener Alfredo Binda (1927), Merckx (1971) und dem Franzosen Bernard Hinault (1980) gelungen.

Doch was ist der Schlüssel für eine so erfolgreiche Saison? «In diesem Jahr habe ich gelernt, mit Druck umzugehen und das ist einer der Hauptgründe, warum ich so erfolgreich bin», lautet Evenepoels Erklärung. «Jetzt dieses Trikot zu tragen, macht die Sache nicht besser. Aber ich habe meine Familie und meine Teamkollegen um mich herum, die mir helfen. Man gewinnt nie alleine und man kann auch nicht alleine bleiben. Das habe ich während meiner Rehabilitation nach meinem Unfall gelernt.» Er könne es nun kaum erwarten, im nächsten Jahr sein erstes Rennen im Regenbogentrikot des Weltmeisters zu bestreiten. «Ich werde jeden Kilometer geniessen.»

Damit ist auch klar, dass Evenepoels Entscheid, den Fussball aufzugeben, goldrichtig war.

sda