Trotz grosser Ungewissheit beginnt am Dienstag die 75. Ausgabe der Spanien-Rundfahrt. Corona und das Wetter stellen die auf 18 Etappen verkürzte dritte Grand Tour des Jahres auf eine besondere Probe.
Das letzte Highlight im diesjährigen Radsport-Kalender soll trotz tiefer Besorgnis über die sprunghaft ansteigenden Corona-Infektionszahlen in ganz Europa über die Bühne gehen. Im Vergleich zum Start des Giro d'Italia vor zweieinhalb Wochen hat sich die Situation hinsichtlich der Pandemie weiter verschlechtert. Spanien weist eine der höchsten Ansteckungsraten im europäischen Vergleich auf.
Einige Massnahmen zur Minimierung potenzieller Gesundheitsrisiken wurden nach Bekanntwerden der Verlegung der dreiwöchigen Rundfahrt vom Spätsommer in den Herbst bereits früh getroffen. So haben die Organisatoren die in den Niederlanden geplanten ersten drei Etappen ersatzlos gestrichen. Die Route umfasst damit erstmals seit 1985 nicht 21, sondern nur noch 18 Teilstücke. In der dritten Woche wurden ausserdem zwei Renntage in Portugal zurück auf spanischen Boden verlegt. Lange Transfers sollen möglichst vermieden werden.
Wie bei der Tour de France setzt der Veranstalter ASO auch in Spanien auf strenge Sicherheitsmassnahmen. So sind an insgesamt neun grossen Anstiegen keine Zuschauer zugelassen. Auch auf die Werbekarawane wird komplett verzichtet, um möglichst wenig Publikum an die Strecke zu locken. Die Fans werden ermutigt, zu Hause zu bleiben.
Die Sorge vor positiven Tests im Fahrerlager ist latent, der Ausstieg von ganzen Teams wie zuletzt im Giro d'Italia durch Jumbo-Visma und Mitchelton-Scott will man unbedingt verhindern. Von den am Sonntag durchgeführten 498 Tests fielen zwei positiv aus. Betroffen waren allerdings keine Fahrer, sondern je ein Mitarbeiter aus dem Team Bahrain-McLaren und Sunweb, die umgehend isoliert wurden. Die Frage bleibt: Schafft es der Tross bis nach Madrid, wo die Vuelta am 8. November planmässig zu Ende gehen soll?
Aussergewöhnlich harter Parcours
So gross die Sorgen rund um die Durchführung sind, ein Blick auf den Streckenplan lässt das Herz eines jeden Radsportfans höher schlagen. Nach der Streichung der drei (Flach-)Etappen in den Niederlanden gibt es für die Fahrer nämlich kaum Eingewöhnungszeit. Die Strecke bietet eine der härtesten ersten Wochen einer Grand Tour der Nachkriegszeit. Bereits die 1. Etappe im Baskenland wartet mit einer schweren Schlusssteigung auf. Auch danach bleibt es bis zum ersten Ruhetag am Montag mehrheitlich bergig, mit dem ersten Höhepunkt in der 6. Etappe und der Besteigung des Col du Tourmalet – sofern das Wetter den Abstecher in die französischen Pyrenäen überhaupt zulässt. Denn Schnee auf 2'115 Metern über Meer ist angesichts der fortgeschrittenen Jahreszeit kein unrealistisches Szenario.
Eine Vorentscheidung um den Gesamtsieg könnte zum Abschluss der zweiten Vuelta-Woche in den asturischen Bergen fallen. Dann steht auf der nur 109 km langen, aber mit fünf kategorisierten Anstiegen gespickten Königsetappe der gefürchtete Schlussanstieg zum Alto de l'Angliru im Programm. Auch das einzige Einzelzeitfahren dieser Vuelta, das zu Beginn der letzten Woche stattfindet, wird bezeichnenderweise mit einer Bergankunft enden.
Fragezeichen auch bei den Favoriten
Auch für das letzte Highlight im Radsport-Kalender 2020 sind einige grosse Namen auf der Teilnehmerliste zu finden. Angeführt wird das Vuelta-Feld von Vorjahressieger Primoz Roglic. Der Slowene war in diesem Jahr drauf und dran, auch die Tour de France zu gewinnen, wurde aber im Zeitfahren noch von seinem Landsmann Tadej Pogacar abgefangen. Roglic wird im erneut stark aufgestellten Team Jumbo-Visma zusammen mit dem Niederländer Tom Dumoulin eine Doppelspitze bilden. Die Frage stellt sich, ob das Duo nach den körperlich und mental fordernden Wochen mit Tour, WM und Lüttich-Bastogne-Lüttich noch über genügend Energiereserven verfügt.
Ebenfalls ein grosses Fragezeichen steht hinter der Form von Chris Froome. Der 35-jährige Brite wartet seit seinem schweren Sturz vor 16 Monaten immer noch auf ein Topergebnis. Auf den Start an der Tour de France, die er viermal gewinnen konnte, musste er wegen fehlender Form verzichten. Nun möchte der zweifache Vuelta-Sieger (2011 und 2017) vor seinem Wechsel zur Equipe Israel Start-Up Nation in seiner letzten Rundfahrt für seinen langjährigen Arbeitgeber Ineos Grenadiers beweisen, dass er es noch immer drauf hat. Mit dem Ecuadorianer Richard Carapaz weiss Froome einen Teamkollegen an seiner Seite, der auch schon mal eine Grand Tour (Giro 2019) gewonnen hat. Ebenfalls gespannt darf man auf den Auftritt von Thibaut Pinot nach seiner von Verletzungen geplagten Tour de France sein.