Die Tour de France ist Garant für Spektakel, in diesem Jahr ganz besonders. Der Kampf ums Maillot jaune dürfte von vier Ausnahmeathleten geprägt werden, die heuer noch nie aufeinandergetroffen sind.
Jonas Vingegaard, Tadej Pogacar, Remco Evenepoel und Primoz Roglic – sie alle haben sich in diesem Jahr die Tour de France im Rennkalender ganz dick angestrichen. In den letzten Wochen nahmen die vier auserkorenen Hauptdarsteller des bekanntesten Radrennens der Welt jedoch gezwungenermassen unterschiedliche Wege.
Auslöser dafür war ein verheerender Massensturz an der Baskenland-Rundfahrt Anfang April, in den sowohl Vingegaard als auch Evenepoel und Roglic verwickelt waren. Während die Letztgenannten Anfang Monat an der Dauphiné-Rundfahrt ihr Comeback gegeben haben, fehlt es Vingegaard bei seiner Mission Tour-Hattrick gänzlich an Rennpraxis. Pogacar legte nach seinem Triumph am Giro d'Italia den Fokus auf die Erholung und das Training in der Höhe.
Die «Big 4» vor dem Grand Départ im Formcheck.
Jonas Vingegaard: Die grosse Ungewissheit
Lange Zeit war unklar, ob Jonas Vingegaard am Samstag in Florenz zur 111. Tour de France starten kann. Die Sturzverletzungen, die sich der Däne vor knapp drei Monaten im Baskenland zugezogen hatte, waren heftig: Schlüsselbeinbruch, Rippenbrüche, Pneumothorax. Nach einem zwölftägigen Spiralaufenthalt dauerte es nochmals drei Wochen, bis er am 7. Mai zum ersten Mal wieder aufs Velo stieg. Der Wettlauf mit der Zeit begann.
Sein Team Visma-Lease a Bike betonte stets, dass Vingegaard nur dann starten werde, wenn er «zu 100 Prozent fit» sei. Nach einem Höhentrainingslager in Tignes in Savoyen kam letzte Woche schliesslich das «Go» für das Comeback. Die Fragezeichen hinter seinem Formstand bleiben gleichwohl. Wie gut kann seine Verfassung mit einer derart eingeschränkten Vorbereitung sein? Die Leistungsdaten aus den Trainings dürften dem 27-Jährigen Anhaltspunkte zur Beantwortung dieser Frage geliefert haben. Die Radsportfans hingegen müssen wohl warten, bis ihm die Konkurrenz ein erstes Mal auf den Zahn fühlt. Sollte Vingegaard tatsächlich zum dritten Mal in Folge triumphieren, wäre es zweifellos sein grösster Erfolg.
Tadej Pogacar: Diesmal wieder der Gejagte
Tadej Pogacar, der sich vor einem Jahr nach einem Kahnbeinbruch in einer ähnlichen Situation wie Vingegaard derzeit befanden hatte, rückte in den letzten Wochen nach und nach in die Rolle des Topfavoriten. Nach seiner beeindruckenden Vorstellung am Giro, den er mit fast zehn Minuten Vorsprung gewann, sind seine Rivalen gewarnt. Umso mehr, weil der Slowene bei der «Grande Boucle» auf ein bärenstarkes Team zählen kann.
Doch bei allem Optimismus im Team UAE Emirates bleibt die Frage, wie gut Pogacar die Belastungen von zwei Grand Tours in Folge verkraftet. Bislang scheint alles nach Plan zu verlaufen. Nach eigenen Aussagen hat ihn der Giro-Sieg nicht allzu viel Energie gekostet. In der unmittelbaren Vorbereitung auf die Tour musste er aber einen gesundheitlichen Rückschlag wegstecken. «Ich bin vor zehn Tagen krank geworden. Ich hatte Covid, das war ein kleines Fragezeichen, aber ich habe mich gut erholt und bin wieder voll einsatzfähig», berichtete der Slowene am Donnerstag.
Bei der Tour de France war Pogacar nach seinen Siegen 2020 und 2021 in den letzten beiden Jahren an Vingegaard gescheitert, der sich in der grossen Höhe als überlegen erwiesen hatte. Bleibt Pogacar gesund und von schweren Stürzen verschont, spricht vieles dafür, dass er als erster Fahrer seit 1998 das Double aus Giro und Tour im selben Jahr schaffen wird.
Primoz Roglic: Aus dem Schatten
Primoz Roglic scheint derzeit der Hauptrivale von Pogacar zu sein, seinem slowenischen Landsmann, der ihm das Gelbe Trikot am vorletzten Tag der Tour de France 2020 abgenommen hatte. Für sein ganz grosses Ziel hat sich Roglic mit 34 Jahren nochmals für eine Luftveränderung entschieden. Er hat das Erfolgsteam Visma verlassen, um aus dem Schatten von Vingegaard zu treten. Im Team Bora-Hansgrohe hat er die Chance erhalten, noch einmal den Sieg bei der Tour de France anzustreben, der einzigen grossen Rundfahrt, die er noch nicht gewonnen hat.
Nach dem Neuanfang erlebte Roglic mit dem Sturz an der Baskenland-Rundfahrt schon bald einen ersten Dämpfer, doch mit Verbrennungen und Abschürfungen kam er im Gegensatz zu Vingegaard relativ glimpflich davon. Seine Rückkehr am Critérium du Dauphiné verlief vielversprechend. Mit zwei Etappenerfolgen und dem Gesamtsieg tankte Roglic in der unmittelbaren Vorbereitung das nötige Selbstvertrauen für die bevorstehende Herkulesaufgabe. Und wer weiss: Vielleicht gelingt es Roglic mithilfe des neuen Team-Hauptsponsors Red Bull, seine Gegner in den Bergen zu überflügeln.
Remco Evenepoel: Das grosse Rätsel
Für Remco Evenepoel bedeutet die Tour de France Neuland. Bislang hat der 24-jährige Belgier vier dreiwöchige Rundfahrten bestritten und 2022 an der Vuelta triumphiert. Vor seiner Tour-Premiere gibt er sich zurückhaltend. «Mein Plan ist es, das Rennen zu entdecken, es Tag für Tag anzugehen und dann zu schauen, wohin es uns führt», sagte der Zeitfahr-Weltmeister aus dem Team Soudal Quick-Step, der wie Vingegaard wegen der Sturzfolgen (gebrochenes Schlüsselbein und ein gebrochenes Schulterblatt) im April operiert werden musste.
Evenepoel erholte sich jedoch schneller als der Däne und konnte schon am Dauphiné sein Comeback geben. Dabei hinterliess er einen zwiespältigen Eindruck. Auf den Sieg im Zeitfahren folgten (nach einem neuerlichen Sturz auf die lädierte Schulter) schwierige Tage in den Bergen, in denen er nicht mit den Besten mithalten konnte. Am Ende resultierte für Evenepoel der 7. Schlussrang – mit «85 Prozent Form», wie er selbst analysierte. Für das Rendez-vous der grossen Rad-Tenöre werden aber 100 Prozent nötig sein.