«Unser Vater» Die Kinder eines Schweizer Priesters schweigen nicht länger

Von Marlène von Arx, Los Angeles

1.4.2023

Ein Priester schwängert in den 50er und 60er Jahren vier Frauen: In «Unser Vater» brechen dessen Kinder nun ihr Schweigen. Zwei von ihnen erzählen blue News, wie sie die späte Aufklärung der Familiengeheimnisse erleben.

Von Marlène von Arx, Los Angeles

1.4.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Der katholische Priester Toni Ebnöther zeugt in den 50er und 60er Jahren Kinder mit vier Frauen.
  • Seine Nachkommen erfahren erst spät, wer ihr Vater ist – und wie viele Halbgeschwister sie haben.
  • In der Dokumentation «Unser Vater» kommen die Kinder zu Wort und offenbaren eine tragische Familiengeschichte.
  • blue News hat mit zwei Töchtern, Lisbeth und Monika, gesprochen.

An der Beerdigung des ehemaligen Priesters Toni Ebnöther setzt sich Monika in die erste Kirchenbank: Die erste Reihe sei für die Familie reserviert, wird sie von der Schwester der Witwe belehrt. «Ich bin die Tochter », klärt Monika auf.

Damit bringt sie 2011 nicht nur in ihrer eigenen Familie einen Stein ins Rollen: Toni schwängerte in den 50er Jahren gleich drei Frauen. Als sich die Kirche endlich überwand, ihn freizustellen, wurde er 1959 Gastwirt und zeugte nochmals zwei uneheliche Kinder, die keine Ahnung von ihren Halbgeschwistern hatten.

Der über mehrere Jahre gedrehte Dokumentarfilm «Unser Vater» von Miklós Gimes bringt nun Licht ins Dunkel.

«Das Dutzend wird noch voll»

«Ich wusste, die Beerdigung würde einiges aufdecken», erinnert sich Monika. Und tatsächlich: «Dort habe ich Anna kennengelernt und erfahren, dass es ihre Kinder, also meine jüngeren Halbgeschwister Daniela und Adrian gibt.» Sie wollte später ein Treffen mit Anna vereinbaren, aber diese war zu verletzt, dass Toni offenbar noch andere uneheliche Kinder in die Welt gesetzt hatte.

Es sollte auch nicht bei drei Kindern bleiben: An Ostern 2013 gab es das erste Geschwister-Treffen von Lisbeth (72), Christine (71), Toni (70), Monika (64), Daniela (58) und Adrian (55). «Vermutlich gibt es noch mehr wie wir im Rafzerfeld», wäre Lisbeth nicht überrascht, wenn der Film noch weiteren Nachwuchs von Toni Ebnöther an den Tag fördern würde. «Ich sag immer: Das Dutzend wird noch voll.»

Die heute 72-jährige Lisbeth ist das erste nachgewiesene Ebnöther-Kind. Ihre Mutter Antonia ist 1949 Pfarrköchin in Bülach, als der Vikar Toni sie vergewaltigt. Sie wird schwanger und ins Wallis verfrachtet, um das Kind zu gebären und zur Adoption freizugeben. Aber schliesslich darf sie das Baby behalten und auf den Hof der streng katholischen Eltern zurück.

Weitere Kinder immer abgetan

Lisbeth gründet früh eine Familie, wo sie die Geborgenheit findet, die ihr als Kind fehlte. Erst mit 30 erfährt sie, dass ihr Vater nicht an einer Krankheit gestorben ist, sondern noch lebt und Pfarrer war. Ein Treffen wird vereinbart. Ebnöther legt seine Hand auf ihr Knie und will sie küssen: «Wollte ich so einen Typen kennenlernen? Ich war ja seine Tochter!», war Lisbeth perplex.

«Aber das Bedürfnis, mehr über ihn zu erfahren, nahm halt Überhand.» Sie besucht ihn fortan mit ihrer Familie. Er habe sicher noch weitere Kinder, will sie ihn aus der Reserve locken. «Aber er hat nur gelacht, die Augen verdreht und gesagt: Wenn du meinst …»

Mutter Antonia bleibt ein Leben lang alleinstehend. Erst zwei Jahre vor ihrem Tod 2016 gesteht sie Regisseur Miklós Gimes, dass Lisbeth nicht das Resultat einer verbotenen Romanze à la «Dornenvögel» ist, sondern einer Vergewaltigung. «Ich fiel fast vom Sockel», erinnert sich Lisbeth an die Aufnahmen.

«Mit mir wollte sie nie darüber reden. Mir fiel aber schon als Kind auf, dass sie ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität hatte und ich verstehe jetzt natürlich, dass sie nichts mehr mit Männern zu tun haben wollte.»

Hadern mit kirchlicher Institution

Der Vorfall wurde dem Bischof von Chur gemeldet. Wie andere Beschwerden in den 50er Jahren auch. Toni kam ins Franziskaner-Kloster in Freiburg, um zur Besinnung zu kommen und wurde in neue Gemeinden versetzt. Im Film entschuldigt sich Bischof Joseph Maria Bonnemain bei den Geschwistern für die lasche Haltung der Kirche. Es seien halt andere Zeiten gewesen. Für Lisbeth ist das nicht genug. «Ich hätte mehr von ihm erwartet», ist sie enttäuscht. «Ich wünsche mir endlich eine ernsthafte Aufarbeitung.» Sie hofft, dass der Film einen neuen Anstoss dazu gibt.

Einst aktiv als Kirchenpflege-Präsidentin, hadert sie heute mit der katholischen Kirche als Institution: «Es wird immer noch alles schöngeredet. Unter dem Motto: Was wollt ihr denn jetzt noch? Als Kirchenpflege-Präsidentin hatte ich zwei Priester, von denen ich wusste, dass sie in Partnerschaften leben. Ich wollte ihnen keinen Lohn mehr zahlen. Man kann nicht ein Gelübde ablegen und dann einfach dagegen verstossen. Wenn wir in der Privatwirtschaft einen Mist bauen, müssen wir auch dafür geradestehen.»

Sie ist für die Aufhebung des Zölibats und die Anerkennung der Frauen, ohne die die Kirche gar nicht bestehen könne. Eigentlich wollte sie aus der Kirche austreten, tat es dann aber doch nicht. Sie findet, mit der Kirchensteuer wird viel Gutes für Junge und Betagte getan, die beim Staat durch die Maschen fallen würden.

Es bricht einem das Herz

Monika ist längst ausgetreten. Religionen sollten Menschen nicht trennen, sondern Herzen verbinden helfen, ist sie der Meinung. Schon vor ihrer Geburt passierte unter dem Einfluss der Kirche viel Elend: Ihrer Grossmutter wurden die Kinder weggenommen und verdingt, weil der Mann gestorben war.

Dann die Sache mit Ebnöther: Ihre Mutter Rita war Blauring-Führerin und im Kirchenchor, den Toni leitete. Rita mochte ihn, verstand aber nicht, worum es ging, als der fast zwanzig Jahre ältere Mann sie hiess, sich zu ihm unter die Decke zu legen. Ihre Schilderungen im Film brechen einem das Herz.

«Ich kannte ihre Aussagen ja, aber dass sie das alles nach ihrem Schlaganfall in einfachen Worten vor der Kamera erzählt, berührt mich sehr», sagt auch Monika. Sie möchte ihre Mutter auch schützen: «Sie war naiv und gutgläubig, aber man muss auch bedenken, was die Frauen in jener Zeit wussten. Ich kenne ja auch ihr Leben als Verding-Mädchen und was sie alles durchgemacht hat. Ich habe also einen anderen Kontext und möchte nicht, dass man sie schlecht hinstellt.»

Verschweigen und verheimlichen

Lisbeths Mutter hatte ein Couvert mit 100 Franken von Ebnöther bekommen, bei Rita sollen es 200 Franken gewesen sein. Sie solle damit machen, was sie könne. Was immer das heissen mag. Sie kauft Wolle und strickt Babykleider. Im Heim für ledige Mütter bekommt Rita einen Anwalt. Toni soll das Kind anerkennen. «Sie musste beweisen, dass sie nichts mit anderen Männern hatte», so Monika. Die Untersuchung ergab, dass Ebnöther der Vater war und Alimente zahlen musste.

Monika wächst in einem Kinderheim auf, wo ihre Mutter als Köchin und Kinderbetreuerin leben und arbeiten kann. Mit neun Jahren lernt sie Ebnöther kennen. Er gibt ihr Süssigkeiten und umarmt sie. Aber dass sie seine Tochter ist, muss ein Geheimnis bleiben. Es gab ja immer Eifersüchteleien um ihn: «Ich habe das Prozedere erlebt, wenn Frauen ins Gasthaus kamen und ihre Arme um ihn schlangen», erinnert sie sich. «Ich kenne auch diese Seite.»

Als Monika zehn Jahre alt ist, heiratet Rita. Monika bekommt einen Vater und später drei Geschwister. «Dädi war ein Glück für mich. Er liebte meine Mutter und stand immer zu ihr.» Inzwischen selber zweifache Mutter und Grossmutter, hatte Monika trotzdem Krisen zu überwinden. Mann, Liebe, Sexualität waren «Riesenthemen».

«Aber ich habe das alles aufarbeiten können und bin heute glücklich. Es gibt viele Lebensschicksale, die sehr hart sind. Schlimm ist, was das Verschweigen und Verheimlichen alles anstellen kann. Ich hoffe, dass der Film das aufzeigt.»

«Unser Vater» startet am 6. April im Kino.

Rund um den Kinostart finden zahlreiche Spezialvorführungen inklusive Podiumsgesprächen mit Protagonist*innen, Fachpersonen und Vertreter*innen der katholischen Kirche statt, unter anderem in Luzern und Zug (2.4.), Bern (3.4.), Zürich (4.4.), Chur (5.5), St. Gallen (16.4.) und Thun (18.4.)


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