Doppelt oscarnominierte Sandra Hüller «Ein frauenfeindliches System ist universell»

Von Marlène von Arx, Los Angeles

2.3.2024

Mit den zwei oscarnominierten Filmen «Anatomy of a Fall» und «The Zone of Interest» ist Sandra Hüller die Schauspielerin der Stunde in Hollywood.

Von Marlène von Arx, Los Angeles

2.3.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Mit den zwei oscarnominierten Filmen «Anatomie d’une chute» und «The Zone of Interest» ist Sandra Hüller die Schauspielerin der Stunde in der amerikanischen Filmmetropole.
  • Trotz grossen Erfolgs, die 45-Jährige bleibt auf dem Boden und beantwortet höflich alle Pressefragen.
  • «Natürlich wüsste ich gerne, wie es in Hollywood läuft, aber ich bin Deutsche, lebe in Deutschland und meine Tochter geht da zur Schule. Wir werden sehen, wie es diesmal herauskommt. Ich bin gespannt», sagt Hüller.

In Hollywood kann man es kaum fassen, dass eine Schauspielerin mit einem deutschen Akzent gleich in zwei Filmen die Hauptrolle spielt, die in der Königskategorie «Bester Film» oscarnominiert sind.

Aber so ist es dieses Jahr: Sowohl in der französischen Produktion «Anatomie d’une chute» («Anatomie eines Falls») und in «The Zone of Interest», Jonathan Glazers deutschsprachiger Film aus England, dreht sich alles um Sandra Hüller. «So was konnte wirklich niemand vorausahnen», erklärt sie während ihrer Award-Kampagne der Hollywood-Presse stoisch und auf Englisch.

Beide Filme sind für je fünf Oscars nominiert, inklusive für die Drehbücher, die Regie und im Fall von «Anatomie eines Falls» auch in der Kategorie «Beste Schauspielerin».

Sandra Hüller: «Ich wüsste gerne, wie es in Hollywood läuft»

Hollywood kommt aus dem Schwärmen nicht heraus: Die Fachmagazine wie «The Hollywood Reporter» und «The Wrap» widmeten der 45-jährigen Deutschen schon im Spätherbst Titelgeschichten. Sie wurde von der «New York Times» und dem renommierte Staatsradiosender NPR interviewt.

Der Verband der Filmkritiker*innen in Los Angeles kürte Hüller, die mit ihrer zwölfjährigen Tochter und ihrem Partner in Leipzig lebt, Ende 2023 zur «Schauspielerin des Jahres».

Und Jimmy Kimmel durfte sie in seiner TV-Show aufklären, weshalb man Thüringen das grüne Herz von Deutschland nennt (wegen der Wälder natürlich). Sandra Hüller ist seit Monaten immer wieder in den US-Medien präsent.

Beim traditionellen Oscar-Lunch stahl ihr Messi, der Border Collie aus «Anatomie eines Falls», zwar fast die Show, aber die disziplinierte Promoterin beantwortet auch hier freundlich viele Fragen.

Trotzdem bleibt sie unfassbar und unnahbar. Und das passt ihr so. Der NPR-Interviewer verdrehte ihren Namen irrtümlicherweise auf ein französischklingendes «Ulé». Hüller korrigierte ihn nicht.

Der Wirbel in Hollywood bringt sie nicht aus der Ruhe. Sie weiss, dass die roten Teppiche hier oft ins Nichts führen und der Hype keine Angebote seitens der grossen Studios garantieren: «Ich wurde schon vor ein paar Jahren gefragt, ob ich eine Karriere in Hollywood anstrebe, aber nichts ist passiert», spielt sie auf ihre Erfolgstour mit der deutschen Komödie «Toni Erdmann» vor acht Jahren an.

«Natürlich wüsste ich gerne, wie es in Hollywood läuft, aber ich bin Deutsche, lebe in Deutschland und meine Tochter geht da zur Schule. Wir werden sehen, wie es diesmal herauskommt. Ich bin gespannt.»

Frauen ohne Schuldgefühle

In Justine Triets «Anatomie d’une chute» («Anatomie eines Falls») spielt Hüller eine erfolgreiche Autorin namens Sandra Voyter, deren Mann im gemeinsamen französischen Chalet aus dem obersten Stock zu Tode stürzt. Ist er gefallen? Hat sie ihn gestossen? Was weiss der blinde Sohn der beiden?

Der Film ist weniger ein Gerichtsdrama, als ein Einblick in familiäre Beziehungen und in die systematische Frauenfeindlichkeit im öffentlichen Leben – von ihrer vermeintlichen Verantwortung für das Glück ihres beruflich weniger erfolgreichen Mannes bis zur Befragung vor Gericht, wo ihr Selbstbewusstsein als unfeminin und negativ gewertet wird.

«Es ist ein sehr feministischer Film und kommt wohl in verschiedenen Ländern gut an, weil ein frauenfeindliches System universell ist», so Sandra Hüller, die während der Dreharbeiten prompt Parallelen in der wirklichen Welt fand:

«Wir konnten es kaum fassen, dass gleichzeitig der Prozess zwischen Johnny Depp und Amber Heard stattfand. Ich verfolgte die Übertragung oft, obwohl ihre nichts mit unserer Geschichte zu tun hatte. Aber es ging da auch um eine gescheiterte Ehe, und wie eine Frau vor Gericht wahrgenommen wird.»

Obwohl der Film bereits in Cannes die Goldene Palme gewann, reichte Frankreich stattdessen die Küchenorgie «La Passion de Dodin Bouffant» mit Juliette Binoche fürs Oscarrennen ein.

Vielleicht, weil Filmemacherin Justine Triet mit ihrer forschen Art und kritischen Kommentaren wie Sandra Voyter im Film das System gegen sich aufbrachte. Nachdem das Kostümdrama mit Binoche bei den Nominationen durchgefallen war, dürfte eine Reform des französischen Auswahlverfahrens anstehen.

Sandra Hüller: «Die Figur selber ist nicht das Problem»

Sandra Hüller drehte «The Zone of Interest», «Sisi & Ich» (Hüller spielt eine Hofdame der Kaiserin) und «Anatomie eines Falls» dicht hintereinander, obwohl sie sich lieber viel Zeit gibt, sich von einer Figur zu trennen: «Die Figur selber ist eigentlich nicht das Problem, aber ich brauche ein paar Wochen, bis all die Aufregung, das Adrenalin und die Hormone aus meinem Körper raus sind.»

Das war besonders auch nach «The Zone of Interest» der Fall: Sandra Hüller verkörpert Hedwig Höss, die mit ihrem Mann, Auschwitz-Kommandant Rudolf Höss, und ihren Kindern in ihrer Villa an der KZ-Mauer lebt und sich an den schönen Dingen des Lebens erfreut.

Höss wird versetzt und Hedwig will nicht umziehen – sonst passiert nicht viel an Drama jenseits der Mauer zum Vernichtungslager, aus dem man Rauch aufsteigen sieht und Schüsse hört.

Es ist ein Horrorfilm der subtilen Art. «Normalerweise habe ich mehr Empathie für eine Rolle und gebe ihr viel von mir. Es schien mir nicht richtig, Hedwig Höss etwas von mir zu geben», erklärt die Schauspielerin in «The Wrap». «Ich habe Hedwig nur beobachtet und getan, was der Regisseur Jonathan Glazer mir sagte.»

In Basel hat Sandra Hüller das Handwerk verfeinert

Sandra Hüller besuchte vier Jahre die Schauspielschule in Berlin und verfeinerte ihr Handwerk an den Theatern von Jena, Leipzig und schliesslich von 2002 bis 2006 in Basel, wo sie unter anderem in den Hauptrollen von Shakespeares «Romeo & Julia», Goethes «Faust I» und Tennessee Williams' «Die Katze auf dem heissen Blechdach» auftrat.

Aufgewachsen ist die Tochter eines Lehrerpaares im Kurort Friedrichroda in der damaligen DDR. Sie habe keine speziellen Hobbys und Interessen gehabt, bis sie das Theater entdeckte, blickt sie zurück.

Im Kino machte sie erstmals 2006 in «Requiem» von sich reden. Als angeblich vom Teufel besessene junge Frau muss sie sich darin einem Exorzismus unterziehen.

Zehn Jahre später horcht Hollywood auf, als «Toni Erdmann» für diverse Preise, darunter als bester ausländischer Film bei den Oscars, nominiert wird. Als Unternehmensstrategin in Bukarest bekommt Hüller darin Besuch von ihrem Vater Toni (Peter Simonischek), der nur nervige Streiche im Kopf zu haben scheint und sie dauernd blamiert.

«Er war so eine warme Person, der die Leute gerne unterhielt», erinnert sich Sandra Hüller an den im letzten Jahr verstorbenen Peter Simonischek. «Er war so gross – nicht zu übersehen – sanft und interessiert. Ein toller Szenenpartner. Es tut mir leid, dass er nicht mehr hier ist.»

«Ich wurde schon vor ein paar Jahren gefragt, ob ich eine Karriere in Hollywood anstrebe, aber nichts ist passiert»

Trotz des Erfolgs von Maren Ades «Toni Erdmann» in Cannes und später in Hollywood betrachtet sie den Film nicht als Wendepunkt in ihrer Karriere: «Ich ordne meine Filme nicht so ein, denn sie sind alle irgendwie miteinander verbunden und bereichern mich – auch durch die Leute, die ich dabei treffe. Ich habe daher kein Lieblingsbaby.»

Bald erfährst du, ob eines ihrer Babys einen Oscar mit nach Hause trägt. Freuen würde sie sich für beide. Würde sie als beste Schauspielerin ausgezeichnet, wäre sie nach Luise Rainer im Jahr 1936 und 1937 erst die zweite Deutsche, die mit einem Schauspiel-Oscar ausgezeichnet wird. Die Konkurrenz ist mit Lily Gladstone («Killers of the Flower Moon»), Emma Stone («Poor Things»), Annette Bening («Nyad») und Carey Mulligan («Maestro») sehr hart.

Immerhin: Den europäischen Filmpreis und den französischen César hat Sandra Hüller bereits. Die kann ihr niemand mehr nehmen.

«The Zone of Interest» läuft ab 29. Februar im Kino. «Anatomie eines Falls» läuft derzeit in ausgewählten Kinos. Ab 29. Februar auf blue Video erhältlich. 


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