Kolumne am Mittag Basler Professorin erklärt, warum Halbwahrheiten so gefährlich sind

Von Lukas Meyer

1.4.2021

US-Präsident Donald Trump mit seiner Frau Melanie und Beraterin Kellyanne Conway (r.), die den Begriff «alternative Fakten» prägte.
US-Präsident Donald Trump mit seiner Frau Melanie und Beraterin Kellyanne Conway (r.), die den Begriff «alternative Fakten» prägte.
KEYSTONE

Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess untersucht in ihrem Buch «Halbwahrheiten», wie die Grenze von Wahrheit und Lüge verschwimmt und warum das so gefährlich ist für die Gesellschaft.

Von Lukas Meyer

1.4.2021

Halbwahrheiten sind halb wahr und doch ganz falsch. Die Basler Germanistik-Professorin Nicola Gess beschreibt in ihrem neuen Buch «Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit», wie solche Aussagen funktionieren und was man dagegen tun kann.

Auf das Thema kam sie 2016, dem Jahr der Brexit-Abstimmung und der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten.

Sein Umgang mit der Öffentlichkeit und mit der Wahrheit war anders, und seine Beraterin Kellyanne Conway prägte bald den Begriff der «alternativen Fakten». Trump hat auch das Schlagwort der «Fake News» geprägt – diese sind aber nicht unbedingt Halbwahrheiten, sondern oft komplette Fabrizierungen oder Lügen.

Der Umgang mit Halbwahrheiten ist eine Herausforderung für das gegenseitige Verständnis in Politik und Gesellschaft. Vor allem autoritäre und rechtspopulistische Politiker setzen Halbwahrheiten gezielt ein, um ihre eigenen Positionen glaubwürdig zu machen und Wähler anzusprechen.

Bill Gates und die Corona-Impfung

Eine Halbwahrheit basiert auf einem tatsächlichen Ereignis, kombiniert das aber mit einem erfundenen Element. Das kann eine Übertreibung sein, eine Umdeutung, eine Verzerrung oder ein falscher Zusammenhang. Sie liefert so eine glaubwürdige Geschichte und eine vermeintlich einfache Erklärung zu einem komplexen Problem.

Nicola Gess ist seit 2015 Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel.
Nicola Gess ist seit 2015 Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel.
Bild: Universität Basel

Wer eine Halbwahrheit widerlegen will, muss meist mit «Ja, aber …» beginnen – und nach dem «Ja» schalten viele ab. So funktioniert die sogenannte «Motivierte Wahrnehmung»: Was ins eigene Weltbild passt, wird ohne Hinterfragen geglaubt. Was nicht passt, wird einfach ausgeblendet.

Der angebliche Einfluss von Bill Gates ist Gegenstand von vielen Halbwahrheiten. Der Milliardär spendet über seine Stiftung unter anderem der Weltgesundheitsorganisation (WHO) viel Geld. Zudem hat er schon über digitale Zertifikate in der Medizin gesprochen. Daraus entstand eine Verschwörungstheorie über einen Plan, den Menschen unter anderem mit der Corona-Impfung Mikrochips zu implantieren und so gefügig zu machen.

Die Geschichten um Gates haben sich verselbstständigt und werden auch von Ken Jebsen verbreitet, den Gess als Beispiel heranzieht. Der ehemalige Journalist ist als Blogger und Youtuber zum Star der deutschen Verschwörungstheoretiker geworden.

Er inszeniert sich als seriöser Vertreter eines alternativen Mediums, dem man im Gegensatz zu den «Mainstream-Medien» noch trauen könne. Er holt die Zuschauer mit Anekdoten und eigenen Erfahrungen ab und schafft so Vertrauen, um dann die angeblichen Pläne der Eliten zu enttarnen.

Bill Gates (Mitte) mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (rechts) und U2-Frontmann Bono.
Bill Gates (Mitte) mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (rechts) und U2-Frontmann Bono.
Bild: Keystone

Verschwörungstheorien setzen oft auf Halbwahrheiten, um sich glaubwürdig zu machen und neue Leute anzusprechen. Sie nehmen Bezug auf ein reales Ereignis, deuten es aber neu mit der Überzeugung, dass nichts zufällig ist und alles miteinander verbunden – Gates, die WHO, die Politiker in verschiedenen Ländern, die Pharmakonzerne und die Medien.

Die sozialen Medien wirken auch hier als Brandbeschleuniger. Die Empfänger der Nachrichten verbreiten sie auch weiter und werden so zu Mit-Autoren, ohne Verantwortung dafür zu übernehmen. Irgendwann verschwimmt der Unterschied von Wahrheit und Lüge, zwischen Fakten und Meinungen, was zu einem «zynischen Relativismus» führt.

Den Fiktions-Check machen

Beim Umgang mit Halbwahrheiten hilft das Fach von Gess, die Literaturwissenschaft. In der Literatur geht es um Fiktives, also Erfundenes und Zurechtgezimmertes, das Wahrscheinliche wird dem Wahren vorgezogen. Dessen ist sich der Leser aber bewusst, und er geht eine stillschweigende Abmachung mit dem Autor dazu ein, den sogenannten Fiktionsvertrag.

Gess empfiehlt zusätzlich zum Faktencheck einen Fiktions-Check, um «die Verfahren und Codes, mit denen hier operiert wird, herauszuarbeiten». Vor allem das «Ineinandergleiten der beiden Hälften» ist wichtig.

Wenn eine Nachricht oder eine Geschichte zu rund und zu stimmig wirkt, sollte man misstrauisch werden und schauen, wie sie aufgebaut ist. Was ist real und was fiktiv? Wer erzählt sie und an wen richtet er sich? Was könnte das Ziel sein? So kann man etwa die QAnon-Verschwörung als schlechte Literatur entlarven, wie sie der «Wochenzeitung» sagt.

Übrigens: Man könnte auch 1.-April-Scherze als Halbwahrheiten verstehen. Meistens haben sie eine authentische Grundlage und werden mit einem erfundenen Dreh verfälscht und interessant gemacht. Allerdings gibt es hier ebenfalls eine Art von Fiktionspakt – zumindest kann man darauf vertrauen, dass der Scherz im Laufe des Tages aufgelöst wird.

Nicola Gess gibt Auskunft über Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien.

Universität Basel


Bibliografie: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit, Nicola Gess, Matthes & Seitz Berlin, ca. 21 Franken


Regelmässig gibt es werktags um 11:30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – sie dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.