Blondie-Sängerin Debbie Harry «Nach 9/11 wünschte ich mir die Siebziger zurück»

Von Marlène von Arx, Los Angeles

30.11.2021

Die Band Blondie gibt es seit 47 Jahren. Im Interview blickt die 76-jährige Front-Frau Debbie Harry auf ihre Karriere als Punkrock-Ikone zurück.

Von Marlène von Arx, Los Angeles

30.11.2021

Sie stehen seit 50 Jahren auf der Bühne, aber erst vor kurzem sind Sie zum ersten Mal in Kuba aufgetreten. Wie kam es dazu?

Wir wollten da immer schon hin. Aber das bescheuerte politische Verhältnis zwischen den USA und Kuba, das schon viel zu lange anhält, erlaubte das bisher nicht. Schliesslich ergab sich die Möglichkeit im Rahmen eines kulturellen Austausches.

Sie haben das Erlebnis im Konzert-Kurzfilm «Blondie: Vivir en la Habana» festgehalten. Was hat Sie am meisten überrascht?

Mich hat überrascht, wie professionell, total kooperativ und gut einstudiert die Musiker da sind. Sie haben sehr viel Authentizität in unseren etwas hilflosen Versuch gebracht, unseren Rocksongs ein Latin-Aroma zu verpassen. Ich würde gern länger nach Kuba und da Musik aufnehmen, Konzerte mit Studenten geben und mehr vom normalen kubanischen Leben erfahren. Ich bewundere die Kubaner*innen sehr und weiss aus meinem eigenen Leben: Wenn man grosse Schwierigkeiten zu überwinden hat, wird die Kultur umso wichtiger und lebendiger.

Mit welchen Schwierigkeiten mussten Sie denn in Ihrem Leben kämpfen?

Da gab es vieles. Die grösste Hürde bin ich oft selber. Das zu denken und laut zu sagen, ist etwas traurig. Aber eben: Wer ich wirklich bin und wer ich in meinem Träumen gern wäre, unter einen Hut zu bringen, ist wohl meine grösste Herausforderung. Aber in anderen Belangen habe ich auch Glück.

Nämlich?

Dass ich nicht so bekannt bin wie andere. Ich habe eine Karriere, aber auch ein Privatleben mit Freunden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, ein internationaler Superstar wie JLo oder Cher zu sein. Cher habe ich immer bewundert: Sie kam von Null auf eine Million – alles mit Talent und viel Humor.

Sie sind ja selber auch weltbekannt. Nervt es Sie inzwischen, wenn Ihnen die Leute «Call Me» hinterherrufen?

Nein. Mir schmeichelt es immer, wenn sich die Leute an mich erinnern und wissen, wer ich bin. Das gehört zu meinem Geschäft.

Blondie gehörten in den 70er und 80er Jahren zu den rebellischen Punkbands, aber im Vergleich zu heute war die Musik eigentlich zahm. Oder wie sehen Sie das?

Wir wollten damals sicherlich mit der Tradition brechen. Wir wollten weg von den langen Gitarren-Solos und der Grandiosität der damaligen Rockbands und die Musik entschlacken. Alle zehn Jahre schlägt das Pendel aber wieder um, das ist normal. Heute ist vieles wieder anders. Und ja, manchmal weniger zahm. Ich wünschte, ich wäre so frech wie Cardi B!

Sie haben doch auch immer Ihre Frau gestanden ...

Ich war tatsächlich immer eine eigensinnige Frau und sehr unabhängig. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als Büstenhalter verbrannt wurden und wir für das Recht auf die Pille kämpften. Die Gesetze und Zeiten sind besser und verbessern sich hoffentlich weiter. Wenn ich heute anfangen würde, wäre ich aber nicht sicher, ob ich eine Karriere als Musikerin anstreben würde.

Wieso nicht?

Ich liebe Musik nach wie vor, aber heute kann jeder und jede mit etwas Geduld einen Rhythmus und eine Melodie in einem Computer kreieren. Nichts gegen Technologie: Blondie war eine der ersten Bands, die Synthesizers und Soundeffekte in Live-Shows verwendeten. Ich schätzte die Zeit, die wir hatten, um uns zu entwickeln, ohne dass die ganze Welt zuschaute. Heute ist das allsehende Auge allgegenwärtig, der Druck entsprechend gewaltig.

Können Sie sich daran erinnern, Ihre Musik zum ersten Mal am Radio gehört zu haben?

Ja, daran erinnere ich mich noch genau: Ich und mein Partner Chris gingen die 21. Strasse in New York City runter. Ein Auto fuhr vorbei und ich hörte etwas aus dem Radio, das mir gefiel und ich machte eine entsprechende Bemerkung zu Chris. Da sah er mich verdutzt an und sagte, das sei doch mein Song «Rip It to Shreds». Ich erkannte ihn nicht mal, aber immerhin gefiel er mir (lacht).

Sie haben in den 70er Jahren die Avantgarde-Szene in New York geprägt, sowie «The Velvet Underground», denen ein neuer Dokumentarfilm gewidmet ist. Wie ordnen Sie diese Zeit heute für sich ein?

Die 70er Jahre haben immer einen besonderen Platz in meinem Herzen. Nach 9/11 legte ich mich aufs Sofa und wünschte mir die 70er Jahre zurück. Es war zwar wirtschaftlich eine schlechte Zeit, aber es knisterte vor Kreativität. The Velvet Underground war eine meiner Lieblingsbands. Sie experimentierten mit unheimlichen Zwischentönen. Ich bin gespannt auf den Dokumentarfilm.

Blondie touren nach wie vor und nächsten Sommer wird das ultimative Blondie-Box-Set veröffentlicht. Wie halten Sie sich für die Anforderungen von 2022 fit?

Ich habe 2006 mit seriösen Trainings angefangen. Zuvor habe ich nur ab und zu und nicht fokussiert Sport gemacht. Aber dann lernte ich einen Trainer kennen, dessen Persönlichkeit zu meiner passte und ich fing an, auf seine Ratschläge zu hören. Er war Bodybuilder und kannte das Showbusiness. Durch ihn lernte ich Disziplin und meinen Körper zu verstehen. Das hat eine Weile gedauert. Wenn ich brav bin, esse ich Grünkohl-Salat mit Huhn, aber es gehören auch Schummel-Tage zum Training. Dann gibt’s Cheeseburger oder Pizza.

Wie fühlen Sie sich heute auf der Bühne?

Ich habe ja in kleinen Clubs angefangen und da lernte ich schnell, dass ich mich mit dem Publikum auseinandersetzen muss. Als ich noch scheu und unerfahren war, wartete ich auf die Reaktion des Publikums. Irgendwann fiel dann aber bei mir der Groschen, dass ich die Reaktion, die ich haben will, verlangen und aus dem Publikum rauskitzeln muss. Das ist mein Job.

Hatten Sie nie Lampenfieber ?

Es ist eher eine Aufregung als ein Fieber vor einem Auftritt. Die Männer in der Band werden dann so richtig maskulin (lacht). Ich werde fokussiert: Ich überlege mir die technischen Abläufe, checke den Sound, die Monitore und Mikrofone. Dieser Arbeiter-Modus funktioniert für mich. Er bindet meine Nerven auf eine andere Art ein.

Wie wichtig sind Kostüm- und Mode-Stile für Sie?

Ich liebe Kostüme und Kleider, in dieser Beziehung bin ich sehr mädchenhaft. Ich fing in den 70er Jahren mit dem Designer Steve Sprouse an zu arbeiten: Er war ein Nachbar und lachte meinen Vintage-Stil aus. Er zeigte mir dann, wie man eine Linie und einen Look kreiert. Ich betrachte Blondie nicht wirklich als ein Alter-Ego, aber die Bühnenklamotten helfen mir und ermutigen mich, eine Rolle auf der Bühne zu spielen.