Literatur Sibylle Berg schenkt Mobbingopfern ein Happyend in neuem Comic

sda

12.3.2024 - 11:00

Eine Doppelseite aus dem Buch "Mein ziemlich seltsamer Freund Walter". Julius Thesing hat den Comic illustriert.
Eine Doppelseite aus dem Buch "Mein ziemlich seltsamer Freund Walter". Julius Thesing hat den Comic illustriert.
Keystone

Im Comic-Roman «Mein ziemlich seltsamer Freund Walter» erzählt Autorin Sibylle Berg von einem Mädchen, das untendurch muss. Ein ausserirdischer Junge und der freundliche Strich des Zeichners Julius Thesing ergreifen Partei für das «Opfer».

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Lisas Tag beginnt mit Eltern, die im Bett bleiben ohne zu merken, wenn sie das Haus verlässt; mit älteren Jungs, die sie auf dem Schulweg mal kurz eine Runde quälen; mit Hohn und Spott auf dem Pausenplatz, gefolgt von Schimpf und Schande seitens der Lehrerin. Lisa ist neun Jahre alt und bereits eine Verliererin. «Es gibt viele Kinder, die niemanden haben, der ihnen sagt, was richtig und was falsch ist, der auf sie aufpasst und sie streichelt», schreibt die deutsch-schweizerische Autorin Sibylle Berg im Comic-Roman «Mein ziemlich seltsamer Freund Walter». «Aber das kann Lisa nicht wissen. Sie glaubt, sie sei die Einzige auf der Welt, die allein ist, sie glaubt, sie sei selber schuld daran, dass keiner sie mag.»

Die «Selber schuld»-Mentalität der Leistungsgesellschaft, in der es keinen Platz gibt für Solidarität, fand vor einigen Jahren ihren Ausdruck im deutschen Jugendslang-Schimpfwort «Opfer». Seither ist ein «Opfer» für junge Menschen nicht mehr jemand, dem man helfen muss, sondern eine erfolglose Witzfigur, auf der man ungestraft herumtrampeln darf. Kein Wunder, sucht Lisa mit der Astro-Software auf ihren selbstgebauten Computern Abend für Abend den Himmel ab nach einem besseren Planeten.

Zynikerin ganz zart

Dass ausgerechnet Sibylle Berg sich in dem neuen Buch mit einer fast schon zärtlichen Sprache um Lisa kümmert und aus deren Sicht empathisch den Alltag eines randständigen Kindes schildert, erstaunt. Denn Berg ist selber kein «Opfer», sondern das Gegenteil davon: ein Popstar ohne Gnade. Zynismus zeichnet ihre dystopischen Romane aus, die Theatertücke frönen dem Grotesken. Gern deklariert sich die 62-Jährige als nonbinär. Trotzdem dürfte sich auch die woke Community von ihr nicht ermutigt fühlen, denn an Menschen lässt Berg grundsätzlich kein gutes Haar.

So ist es denn auch kein Mensch, der Lisas Freund wird, sondern ein pummeliges Wesen mit Tigerschwanz und dem unaussprechlichen Namen Klaklalnamanazdta. Lisa nennt es kurzerhand Walter. Wie einst Steven Spielbergs E.T. hat Walter sein Raumschiff verpasst und die Seinen sind ohne ihn nachhause geflogen. Ein Glück für Lisa, denn Walter hat so einige Tricks auf Lager, die er mit ihr teilt. Er macht sich unsichtbar, steht den ganzen Tag hinter ihr und feuert sie an, sich zu wehren. Nachts baut er Lisas Computer so um, dass dieser in ihrem Finger Platz hat und immer bei ihr ist. Schade nur, will Walter selbst zurück auf seinen Kuschelplaneten. Ja, tatsächlich entwirft Sibylle Berg hier die Utopie einer paradiesischen Welt weit draussen im All.

Spagat gelungen

Lisa ist nun also gestärkt, bis unter die Haut digitalisiert und zur Mutmacherin für Ihresgleichen mutiert. Denn das Buch, das Sibylle Berg zusammen mit dem deutschen Illustrator Julius Thesing vorlegt, eignet sich wirklich für Kinder und dürfte mit den drolligen, aber auch drastischen Zeichnungen ebenso Erwachsene ansprechen. Dieser Spagat gelingt selten.

Die schönen, wertvollen Bilderbücher, welche Erwachsene für ihre Kinder kaufen, sind ja meist ganz andere, als diejenigen, die Kinder in der Bibliothek oder im Brockenhaus selbst auswählen. Ebenso tauchen auf den Kinder- und Jugendbuchseiten der Feuilletons kaum Lieblingsbücher der eigentlichen Zielgruppe auf. «Mein ziemlich seltsamer Freund Walter» könnte eine Ausnahme von dieser Regel werden. Bleibt nur eins zu klären: Wie lange dürfen junge Menschen die Utopie vom Kuschelplaneten behalten? Um mit dem Titel der berühmten «Spiegel»- Kolumne zu antworten: Fragen Sie Sibylle Berg.

*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.