«Tatort»-Check Der Weimarer Jubiläums-«Tatort» und die Frage: Wie dumm können Entführer eigentlich sein?

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1.6.2020

Zum zehnten Mal wurde am Pfingstmontag in der reizenden Thüringer Landschaft gemordet und entführt: Christian Ulmen und Nora Tschirner mussten sich im Weimarer «Tatort: Der letzte Schrey» als Ermittler einem mal wieder ziemlich absurden Kidnapping-Drama stellen.

Was können schon die Autoren und Filmschaffenden dafür, dass ihre in Prä-Corona-Zeiten geschaffenen Werke dieser Tage bis ins Detail auf Kompatibilität mit der real existierenden Pandemie-Gesellschaft geprüft werden? Szenen überfüllter Clubs und selbst Begrüssungsküsschen könnten die Zuschauer auch nach den weitgehenden Lockerungen noch immer verstören. So auch der aktuelle Weimarer «Tatort», der ja nun immerhin für seine absurden Handlungen bekannt geworden ist.



Doch diesmal, im zehnten Fall von Lessing und Dorn (Christian Ulmen und Nora Tschirner), redete Kripo-Chef Stich (Thorsten Merten), kurz vorm Beginn unseres so sonderbaren Sommers, tatsächlich ohne jeglichen Corona-Zweifel vom Ferienflug nach Ibiza. Man stelle sich das vor: Ferien! Mit dem Flugzeug! Nach Ibiza! Zur zögerlichen Vorfreude auf eventuell doch noch mögliche echte Spanien-Ferien taugte der Mini-Jubiläums-«Tatort» am Pfingstmontag dann allerdings nicht. Gereist wurde nämlich doch nur in die liebliche Gegend des deutschen Bundeslandes Thüringen.

Worum ging es?

Ins Wasser fielen die Ferien vom Cheffe, die er groteskerweise mit dem naiven Kollegen Lupo (Arndt Schwering-Sohnrey) verbringen wollte (Dorn: «Lieber würde ich mit deiner Mutter nach Köckern zum FKK»), nicht wegen Corona, sondern weil inmitten eines sommerlich blühenden Feldes die Leiche einer Frau gefunden wurde. Bereits mit Shorts bekleidet, rief Stich seine Ermittler Lessing und Dorn herbei, die wiederum ihren «petit prince» in die Hände einer unzuverlässigen französischen Babysitterin gegeben hatten und eigentlich ebenfalls einen freien Tag geniessen wollten.

Doch nichts da, es musste ermittelt werden. Die Tote entpuppte sich als Marlies Schrey (Nina Petri), Ehefrau des Strickwaren-Unternehmers Gerd Schrey (Jörg Schüttauf). Als «Augenzeugen» des Mordes am helllichten Tag fanden die Kommissare albernerweise nur die Wandergruppe des örtlichen Blindenverbandes, die jedoch die An- und Abfahrt der Täter umso besser mitgehört hatte: «Es war ein V8-Motor!»

Worum ging es wirklich?

Um Familienzwist und entfremdete Väter, um böse Stiefmütter und existenzbedrohende Pleiten. Alles deutete auf eine Entführung hin, bei der die Schrey-Gattin versehentlich getötet wurde. Verschwunden war nämlich auch Firmenboss Gerd Schrey. Und wie Entführungen nun mal so ablaufen, meldeten sich die Kidnapper mit verstellter Stimme und forderten vom verzweifelten Sohn Maik (Julius Nitschkoff) zwei Millionen für die Freilassung seines Vaters, mit dem er eigentlich im Streit lag.



Eigenartig, schliesslich hatte das Unternehmer-Ehepaar just über diese Summe eine Versicherungspolice für den Fall einer Entführung abgeschlossen. Diese lief bald ab, und die Strickwarenfirma stand auch noch vor dem Bankrott. Verdächtig, verdächtig – war die Kidnapperei am Ende nur inszeniert? Doch auch Sohnemann hatte ein Motiv, das Entführerpaar angestellt zu haben: Seine Stiefmutter Marlies konnte er nämlich nicht leiden.

Überlagert wurde die Suche nach einem der klassischen Krimimotive (Geld, Hass, Liebe) aber von der Frage: Wie dumm können Entführer eigentlich sein?

Wie dumm waren denn bitte die Entführer?

Sehr. Die Mörder, ein ebenso ungleiches wie dümmlich agierendes Duo, sah der Zuschauer von Anfang an. Das erste Opfer von Freya (Sarah Viktoria Frick) und Zecke (Christopher Vantis): ein Hund, der dieselbe Kleidung trug wie sein später mit dem Hammer erschlagenes Frauchen. Was der «Tatort» vom Entführerpaar zeigte, erwies jedenfalls jedem Slapstickfilm grosse Ehre: Schon an der Öffnung des Kidnapping-Handys scheiterten sie, und die dusseligen Dialoge setzten noch einen drauf («Du Schlappschwanz» – «Doch nicht hier vor den Leuten»).

Bis zum grossen Lösegeld-Finale, in dem Zecke angesichts eines fehlgelandeten Geldkoffers tatsächlich auf einen Hochspannungsmast kletterte, und dort, vom Schlag getroffen, das Zeitliche segnete. Das jedoch erst, nachdem er, der kurz vor seinem Tod noch weise zu werden drohte («Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Das habe ich gelesen sogar»), vom Mast aus nach unten spuckte – was uns direkt zur nächsten Frage führt ...

Wann wird ein Hochspannungsmast zur Lebensgefahr?

«Lebensgefahr», steht an den Hochspannungsmasten – laut dem Entführungsopfer im «Tatort» jedoch nur, um Kinder davon fernzuhalten. Um seinem dummen Entführer Zecke (letztlich erfolgreich) in die Irre zu leiten, erzählte Jörg Schüttauf alias Gerd Frey irgendwas von Vögeln, die ohne Probleme auf den Leitungen und Masten sitzen können. Doch wie verhält es sich wirklich mit jenen gigantischen Masten, die uns den Strom liefern?

Immer wieder gibt es Meldungen von Menschen, nicht selten sind es Jugendliche oder psychisch Kranke, die auf Hochspannungsleitungen klettern und dabei schwere Verletzungen erleiden. Und selbstverständlich ist es lebensgefährlich, sich auch nur in die Nähe der meist mit 380'000 Volt betriebenen Masten zu begeben. Denn auch ohne Kontakt zu den Leitungen können durch die hohen Spannungen bereits sogenannte Lichtbögen entstehen, die bei ausreichender Stromstärke schwerste Verletzungen, insbesondere Verbrennungen, erzeugen können.



Angst haben manche Menschen auch vor den langfristigen angeblichen Strahlungs-Auswirkungen der Masten. Diese sind bislang schlecht erforscht. Manche Studien legen aber nahe, das die Magnetfelder tatsächlich die Gesundheit jener Personen beeinflussen, die sich regelmässig in der Nähe der Hochspannungsleitung aufhalten. Zum anderen warnen Experten auch vor den Auswirkungen auf die Natur: Die Schneisen zerstören Lebensräume von Tieren, zudem fliegen grössere Vögel nicht selten gegen die Leitungen.

War es ein würdiges Jubiläum?

Nun ja. Im Gegensatz zum tödlichen Mast führte der zehnte Weimarer «Tatort» nur wenig Hochspannung mit sich. Zu vorhersehbar gestaltete sich die Handlung schon früh. Aber um das Krimigeschehen an sich geht es bei Ulmen und Tschirner ja eigentlich seit 2013 ohnehin nur am Rande. Man liebt den Weimar-«Tatort» eher wegen seiner überzeichneten Figuren, seinem lakonischen Witz und seiner hintersinnigen Dialoge. Highlight der Jubiläums-Episode war dahingehend zweifellos Thorsten Mertens Kripo-Leiter, der auf dem Weg zur Geldübergabe im Kleinstflugzeug nicht nur kotzte und vor Angst weinte («Mich bekommt man nicht mehr lebend in ein Flugzeug»), sondern auch Bonmots kredenzte: «Ich bestell mir was beim ‹Mykonos›, der Chef ist Inder, die können was am Rost.»

Für derlei absolut handlungsirrelevante Einsprengsel muss man den Weimarer «Tatort» nach zehn Episoden einfach lieben – ebenso wie für die gar lieblichen Thüringer Landschaften voller Wiesen, Felder, Wälder, Fachwerk, Bauernhöfe und Landstrassen, die das Absurde passend kontrastieren (Nora Tschirner als Dorn: «Ulla ist ein Ort, die heissen in Thüringen gerne auch mal Nohra»). Auch wenn sich die Folge mit der runden Zahl bei Weitem nicht als die beste des Duos herausstellte: Irgendwie passend, dass die absonderlichen Dorn und Lessing gerade in jenem absonderlichen 50. Jubiläumsjahr der beliebtesten deutschen Krimireihe im Begriff sind, zum – Achtung – «Tatort»-Kult zu werden.

Der «Tatort: Der letzte Schrey» lief am Pfingstmontag, 1. Juni, um 20:05 Uhr auf SRF 1. Mit Swisscom TV Replay können Sie die Sendung bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.

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