«Es war nicht alles schlimm, was passierte» Nach Mord an Vater und Krebstod der Mutter dreht Julien Wagner einen Film

Von Marlène von Arx

14.3.2024

Der Basler Julien Wagner hat schwere Schicksalsschläge in seinem Leben durchgemacht. Im Film «September Babies» versucht er, jene zu verarbeiten, und warnt vor einer Fehlinterpretation.

Von Marlène von Arx

14.3.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Julien Wagner (28) erschuf den dystopischen Thriller «September Babies» nach einem tragischen Lebensabschnitt, bei dem er seine Eltern verloren hat.
  • Er beschreibt das Werk als Identitätssuche und versichert, dass seine Vorgeschichte zu Fehlinterpretationen führt.
  • «September Babies» startet heute, 14. März 2024, in ausgewählten Schweizer Kinos.

Ein Sonntagmorgen im Januar 2018 veränderte das Leben von Julien Wagner auf einen Schlag: Ein Mann aus der Nachbarschaft erschoss seinen Vater und richtete sich darauf selbst. Die Mutter war nur wenige Monate zuvor an Krebs gestorben, und so war das älteste von drei Kindern mit 22 Jahren plötzlich Familienoberhaupt.

In seinem ersten Spielfilm, dem dystopischen Thriller «September Babies», verarbeitet der Basler nun, was seither alles in seinem Kopf vor sich ging.

Julien Wagner, wie haben Sie Film als Ihr Medium entdeckt?

Mein Vater arbeitete mit Constantin Film zusammen und so besuchte ich als Bub die Dreharbeiten von «Der Untergang» mit Bruno Ganz. Die Dynamik auf dem Set ging mir nicht aus dem Kopf: Eine Filmproduktion besteht aus so vielen beweglichen Teilen, aber alle arbeiten auf das gleiche Ziel, die gleiche Vision hin. Das hat mich sehr fasziniert.

Unsere Familie ging ausserdem jedes Wochenende ins Kino. Meine Mutter war ein Fan von Marilyn Monroe und Doris Day. Während die anderen Kids «Batman» schauten, habe ich eine Lektion in alten, schwarz-weissen Screwball-Komödien erhalten (lacht).

Dann wollten Sie zuerst Schauspieler werden?

Ja. Ich spielte Theater, trat in der Jugendserie «Best Friends» und als Statist in «Das Missen Massaker» auf. Dann bin ich mit 17 nach Los Angeles ans Lee-Strasberg-Institut, wo mich vor allem der Drehbuchkurs ansprach. Der Lehrer ermöglichte mir einen Einblick in die Schreibstuben und Sets von Serien wie «Sons of Anarchy», «Shameless» und «Arrow». Ich habe vor allem Kaffee geholt, aber jede Episode hatte einen anderen Regisseur, so habe ich viele verschiedene Ansätze und die Familienatmosphäre auf einem Set kennengelernt.

Und jetzt haben Sie Ihren ersten Spielfilm «September Babies» geschrieben und inszeniert. Wie würden Sie den Film beschreiben?

Es ist schwierig für mich, den Film auf eine Sache zu reduzieren und ihm gerecht zu werden. Ich würde sagen: Es ist eine Identitätssuche. Ein Balanceakt zwischen Wahrheit und Selbstfindung. Er wirft die Frage auf, wie weit man wirklich gezwungen ist, einen vorgegebenen Weg einzuschlagen und ob man verpflichtet ist, die Zukunft gemäss der Vergangenheit zu gestalten.


Trailer zu «September Babies»


Stellten Sie sich damals genau diese Frage, als Sie plötzlich die Rolle des Familienoberhauptes übernehmen mussten?

Ja, zuerst dachte ich, ich muss mich jetzt zurücknehmen, und was ich will, spielt keine Rolle mehr. Aber irgendwann hat es im Kopf geklingelt: Das muss nicht sein. Du kannst und solltest eigentlich immer noch so leben, wie du willst. Meine ganze tragische Vorgeschichte führt eigentlich zu einer Fehlinterpretation.

Wie meinen Sie das?

Die Leute schauten mich eine Weile an, als sollte es mir nur schlecht gehen. 2018 wäre niemand wütend auf mich gewesen, wenn ich in der Zwangsjacke in einer Irrenanstalt gelandet wäre. Man hätte es verstanden. Aber wenn es einem wohl wird in der Opferrolle, hat man irgendwann ein Problem. Ich habe realisiert: Egal, was gewesen ist, irgendein Mehrwert hat das Ganze. Du lernst, dich mit Verlust und Mortalität auseinanderzusetzen.

Und letztlich ist nicht alles schwarz und weiss. Das Leben ist am Ende das, was man daraus macht. Wenn du nicht in der Zwangsjacke enden willst, musst du einen Weg finden, aus dem Scheiss etwas Positives zu machen.

Zum Beispiel einen Film …

Genau. Schreiben war immer ein Weg für mich, einen anderen Blickwinkel auf etwas zu werfen. Kreative Menschen fühlen sich oft als Aussenseiter, aber letztlich suchen sie das Verbindende. Weil es guttut und man so weniger alleine ist. Ich bin froh, habe ich dieses Ventil früh gefunden und wusste, wohin mit meiner Erfahrungswelt. Durch «September Babies» kann man vielleicht ein Stück weit verstehen, was in mir vorgegangen ist.

Mit welcher Figur identifizieren Sie sich denn am meisten in Ihrem dystopischen Thriller?

Die Figuren tragen alle ein Stück meiner DNA. Ich kann wie Nym zwei Wochen in der Wohnung sülzen und alles hinterfragen, aber auch wie Zea rausgehen und kämpfen. Oder wie Bonnie überfordert sein oder wie Bono sich nirgends wohl in dieser Welt zu fühlen. Aber ich identifiziere mich mehr mit dem Film als Ganzem als mit einer einzelnen Figur. Und es war mir auch wichtig, dass die Schauspieler ihre eigene Interpretation einbringen konnten.

Wie haben Sie mit Ihren Geschwistern Sedona, die im Film die junge Version von Zea spielt, und Ihrem Bruder Dennis über den Film gesprochen?

Wir haben nie explizit über den Film geredet. Dass ich den Film drehe, wurde einfach akzeptiert, und es war klar, dass Sedona die junge Zea spielen würde. Die Arbeit auf dem Set macht ihr Spass und sie hat die Fähigkeit, auf Abruf in der Rolle präsent zu sein. Sie bringt etwas sehr Natürliches, Inspirierendes und Erheiterndes mit. Sie ist wirklich ein zufriedenes und glückliches Kind, obwohl sie als Neunjährige monatelang in Verhören und Sorgerechtsevaluationen sass. Das hätte auch schiefgehen können, aber es hat in ihr eine unerbittliche Stärke entwickelt.

Wie kann man sich das Zusammenleben der Wagner-Geschwister heute vorstellen?

Wir haben ein extrem enges Verhältnis und einen sehr schwarzen Humor miteinander entwickelt. Klar streiten wir uns manchmal auch über Dinge, wie: Wer die Küche hätte aufräumen sollen, aber damals kam von aussen so viel auf uns zu, dass es uns im Innern wirklich zusammengeschweisst hat.

Mein Bruder und meine Schwester hatten damals den Luxus, ein bisschen in sich zusammen fallen zu können. Den hatte ich nicht. Es war wichtig, dass ich der Fels in der Brandung war. Gott sei Dank war das meine Rolle. Ich habe viel dabei gelernt – auch fürs Filmemachen: Als Regisseur schauen dich auch alle an und manchmal weisst du auf eine Frage keine Antwort, aber man tut besser so, als hätte man eine.

Wie haben Sie die nicht beantwortbaren Fragen für sich beantwortet wie: Warum ich? Warum passierte uns diese Tragödie?

Es tönt krass, aber alles, was passiert ist, ist nicht nur schlecht. Zumindest hat es uns die Situation ermöglicht, einen Film zu machen, und vielleicht machen wir eines Tages einen Film mit einem gesellschaftlichen Mehrwert, der etwas bewegt. Es dreht sich nicht alles nur um mich, und wie es mir geht. Vielleicht kann das Publikum einen Nutzen für sich daraus ziehen. Es muss ja irgendwie einen Sinn ergeben.

Ich muss auch sagen: Wir waren in der Schweiz, waren finanziell gut gestellt und mit einem riesigen Netzwerk von Freunden und Familie ausgestattet. Das haben viele Menschen nicht, wenn man sich gerade etwas in der Welt umschaut. Wer bin ich denn, mir leidzutun, wenn ich hier im Bruderholz in Basel sitze und Filme machen kann?

Gibt es trotzdem noch emotionale Höhen und Tiefen?

Es gibt absolut Höhen und Tiefen. So etwas verarbeitet man nicht, man trägt es mit sich und es definiert einen auch ein Stück weit. Das ist auch okay. Aber, obwohl es Teil meiner Person ist, muss es nicht Teil meines Charakters sein oder, wie ich meinen Alltag gestalte, beeinflussen. Die grösste Falle, die ich sehe, ist, das Leben zynisch oder böse anzugehen. Wenn du negative Erfahrungen mit der Welt gemacht hast, darfst du das nicht auf jeden und auf jede Situation anwenden. Wieso schaut dich jetzt der Typ im Tram an? Dass die Idee, die Welt sei schlecht, nicht dauernd in den Gedankenprozess reinrutscht, benötigt am meisten Arbeit.

Sie studieren nebenbei immer noch Jura. Weshalb dieses zweite Standbein?

Es gibt mir einerseits etwas Sicherheit und ausserdem tut es auch gut, etwas zu machen, dass nichts mit kreativer Arbeit zu tun hat. Ich halte es für einen Fehler, wenn sich Autoren nur noch mit kreativen Leuten umgeben und vergessen, sich mit der wirklichen Welt, die man ja letztlich erreichen will, auszutauschen.

Gibt es bereits ein nächstes Filmprojekt?

Ja, ein antiplotstrukturierter Film durch die Schweizer Berglandschaft mit dem Titel «Red Cherries in Summer». Es geht um die wenigen Sekunden, in denen du verstehst, dass jemand nicht mehr da ist – ausgedehnt auf einen ganzen Film. Die Person ist weg und kommt nie mehr zurück. Das ist eine unglaublich surreale Erfahrung, entsprechend spielt der Film in einer sehr skurrilen Welt.

Klingt nach einem Begleitfilm zu «September Babies» …

Auch wenn ich es nicht versuche, es passiert automatisch. Es sind offensichtlich Themen, die mich faszinieren, weil sie mich beschäftigen und auch belasten. Ich glaube, viel von meiner Zukunft wird damit zu tun haben, Sinn aus der Vergangenheit zu machen und einen anderen Blickwinkel darauf zu werfen.

Wie schauen Sie allgemein in die Zukunft?

Ich sehe mich am Ende einer Ära und bin sehr glücklich und zuversichtlich, was die Zukunft angeht. Ich bin extrem gespannt und mega dankbar, dass ich auf den Schultern von 300 Leuten stehen darf, die den Film möglich gemacht haben. Klar, bin ich auch etwas nervös, ihn in die Welt zu entlassen. Aber ich glaube, man kann den Film gernhaben, wenn man will. Wenn du ihn hassen willst, schaffst du das auch. Aber warum würdest du das tun wollen?


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