Zheng Qinwen wandelt in den Spuren ihrer Landsfrau Li Na. Mit dem Olympiasieg erlangte sie in China Kultstatus, in New York will das selbst erklärte «Landei» den nächsten Schritt machen.
Zheng Qinwen blinzelt kurz in die Scheinwerfer, ehe sie im grossen Interviewraum von Flushing Meadows Platz nimmt. So ganz scheint sich die 21-jährige Chinesin noch nicht an den Rummel gewöhnt zu haben. «Ich komme nur aus einer kleinen Stadt», sagt sie fast entschuldigend. Doch Zheng lernt schnell – auf und neben dem Platz.
Sie spricht viel besser Englisch als die Chinesinnen, die vor ihr auf der Tour waren. Und sie erzählt gerne aus ihrem Leben, das sich in diesem Jahr so sehr verändert hat. Erst vor einem Jahr schaffte Zheng mit der überraschenden Viertelfinal-Qualifikation am US Open den Durchbruch und erstmaligen Vorstoss in die Top 20. In diesem Jahr folgte der – gegen Aryna Sabalenka verlorene – Final am Australian Open und dann vor gut drei Wochen der Triumph im Olympiaturnier in Paris.
Schnell in der Realität zurück
«Diese Goldmedaille bedeutet enorm viel für mein Land und meine Familie», sagt sie. Nach dem Final in Melbourne brauchte sie einige Zeit, um wieder ihren Fokus zu finden. «Nun gelingt mir das viel besser», erklärt sie nach dem hart erkämpften Erstrundensieg gegen die formstarke Amanda Anisimova. «Aber ist wirklich hart. Man schwebt auf dieser Wolke, doch man muss schnell wieder auf den Boden der Realität kommen. Hier bin ich nicht mehr Olympiasiegerin, alles fängt wieder bei null an.»
Ihre Karriere startete sie in Shiyan in der zentralchinesischen Provinz Hubei. Die «kleine, wirklich ruhige Stadt», wie sie sie selber beschreibt, zählt immerhin eine Million Einwohner, doch für chinesische Verhältnisse ist das wenig. «Ich hatte ein einfaches, normales Leben. Am Morgen und Nachmittag ging ich zur Schule, ab 17 Uhr spielte ich Tennis», erinnert sich Zheng an ihre Anfänge. «Dann hing ich noch ein wenig mit Freunden herum und ass mit meiner Familie.»
In Barcelona zur Spitzenspielerin gereift
Der Vater habe sie aber gepusht, nach dem Training auch noch an ihrer Fitness zu arbeiten. Das Talent der jungen Frau war schnell offensichtlich. Mit acht zog Zheng nach Wuhan, drei Jahre später nach Peking, wo sie mit Lis Erfolgscoach Carlos Rodriguez arbeitete. Na Li, die als erste Asiatin zwei Grand-Slam-Turniere gewann (French Open 2011, Australian Open 2014), ist bis heute Zhengs grosse Inspiration und eine Mentorin. 2019 wagte sie den Schritt nach Barcelona, heute wird sie vom Spanier Pere Riba betreut. Das erklärt auch ihre Stärke auf Sand. Auf dem Weg zum Olympiasieg besiegte Zheng im Halbfinal die Topfavoritin und Weltnummer 1 Iga Swiatek.
Nun will sie aber auch auf Grand-Slam-Stufe den letzten Schritt zum Triumph machen. Noch fehlt der Allrounderin ohne grosse Schwächen dafür aber etwas die Power und Risikobereitschaft. Mit den Worten ihres Vaters im Hinterkopf wird es nicht am Willen fehlen. «Wenn du jetzt, wo du jung bist, nicht hart arbeitest, wirst du dein halbes Leben verpassen», habe er ihr gesagt. Aber auch: «Wenn du hart arbeitest und es geniesst, profitierst du am meisten.» In der Glitzerwelt von New York setzt das «Landei» derzeit beide Ratschläge um.