Die Letzten ihrer Art Der letzte Schirmdoktor der Schweiz

Barbara Schmutz (Text) / Nicolai Morawitz (Video)

16.2.2020

Die letzten ihrer Art – Dieser Berner erweckt Schirme wieder zum Leben

Die letzten ihrer Art – Dieser Berner erweckt Schirme wieder zum Leben

Er ist der letzte Schirmflicker der Schweiz. Grund genug für Erich Baumann, das alte Handwerk in Ehren zu halten. Ob sich eine Reparatur auch für ihren Lieblingsschirm lohnt, erfahren Sie im Video.

11.12.2018

Ein gebrochenes Stängeli tauschen oder das feine Tuch flicken – Erich Baumann kümmert sich um lädierte Schirme liebevoller als so manch ein Tierarzt um seine Patienten. «Bluewin» hat den letzten Schirmflicker der Schweiz besucht.

Der Schirm sieht aus, als wäre er nicht mehr zu retten: Das rote, schlaffe Tuch fliesst wie ein Wasserfall über den Schirmbock, die Werkbank des Schirmdoktors. Das Gestell ist derangiert, lediglich die Stange, Schuss genannt, steht senkrecht. Der prekäre Eindruck täuscht, dieser Patient ist einfach zu kurieren: Er hat nur ein Stängeli gebrochen, ein Leiden, das viele Schirme trifft.

Erich Baumann, der letzte Schirmflicker der Schweiz, zupft das ramponierte Teil aus dem Metallskelett und wetzt damit zu einer seiner Ersatzteilbibliotheken. In Kartonröhren, raumhoch liegend übereinandergestapelt, lagern Abertausende Stängeli.

Baumann setzt sich auf einen Schemel mit Rollen, fährt die Röhren ab, zieht aus dieser und aus jener jeweils ein Stängeli heraus und vergleicht es mit dem Original. «Was kaputt ist, halte ich immer in der linken Hand, die Ersatzteile ziehe ich immer mit der rechten aus der Röhre», sagt er und erklärt auch gleich, weshalb er an diesem System eisern festhält: «Weil ich sonst bestimmt ab und zu das kaputte Stängeli in die Röhre zurückstecken würde» – und es dann eventuell nie mehr zu finden wäre.

Ersatzteile aus Fundbüros

Rund zehn Tonnen wiegen die Ersatzteile, die Baumann in seinem Atelier hortet. Er nennt es Zeitkapsel, «weil ich in einem alten Haus einem alten Handwerk fröne». Eingerichtet hat er es im bernischen Münchringen in einem Schulhaus aus dem Jahr 1867. Im Sommer heizt die Sonne seine Bude so auf, dass er einen Ventilator rotieren lässt, im Winter streicht die Kälte durch Ritzen und die undichten Fenster und kühlt das ehemalige Klassenzimmer auf unwirtliche Temperaturen. «Mich stört es nicht, ich bin kein Gförli», sagt der Schirmdoktor.

Das imposanteste Möbelstück in der Werkstatt ist eine riesige Kommode mit Schubladen, die so tief sind, wie ein Schirm lang ist – eine Massarbeit aus einer ehemaligen Schirmfabrik in Visp.

16 Manufakturen gab es einst in der Schweiz, übrig geblieben ist nur noch eine im sanktgallischen Uznach. Der Grossteil der Modelle, die hierzulande bei Regenwetter aufgespannt werden, stammen aus China und aus Taiwan. Warum ihn dies manchmal wütend macht, erklärt Baumann im Video-Interview:

Baumann, gelernter Gärtner, erfuhr 1999 zum ersten Mal vom Schirmflickerhandwerk, als er in einer Stiftung für berufliche Integration als Arbeitsagoge werkte. Nach Lehrstunden bei einem Schirmflicker, der ihm die Grundgriffe beibrachte, eröffnete er 2008 seine eigene Werkstatt. 20 Prozent setzt der 51-Jährige, der heute als Tram- und Buschauffeur arbeitet, fürs Gvätterle und Nifele ein.

1'000 Schirme flickt er pro Jahr, die meisten Reparaturen gelingen ihm in einer guten Viertelstunde, verlangen tut er dafür 20 bis 25 Franken. Einen hoffnungslosen Fall hatte er bisher kaum. Doch bei zehn Schirmen muss er jedes Jahr dann doch passen: «Weil ich nicht die richtigen Ersatzteile habe.»

Das ist überhaupt die grösste Herausforderung: Ersatzteile finden für die Patienten, die in seine Sprechstunde gelangen. Schüsse, Schieber, Hilfsschieber, Kronen, Stängeli, Federtasten – all das gibt es nirgends zu kaufen. Baumann gewinnt sie aus den Schirmen, die er von Fundbüros und vom Bärner Brocki geliefert bekommt.

Er hat Schirm, Charme,..., fehlt eigentlich nur noch die Melone.
Er hat Schirm, Charme,..., fehlt eigentlich nur noch die Melone.
Bluewin/mn

Die zweitgrösste Herausforderung: Das Ersatzteillager nicht so anschwellen lassen, dass seine Werkstatt zu einer Messie-Bude ausufert. Regelmässig entrümpelt er Kisten, Schachteln und Schubladen und weiss mittlerweile, welche Modelle er entsorgen kann. «Nicht mit System», sagt er, «aber mit einem Gespür, das ich über die Jahre entwickelt habe.»

Unter all den Schirmen, die in Münchringen eingeliefert werden, lassen einige das Herz des Schirmdoktors höher schlagen. Der Rolls Royce-Schirm etwa, den eine Zürcher Garage ins Bernbiet spedierte. Beim Accessoire, das neu rund 1'000 Franken kostet, war der Griff gebrochen, ein Bijou aus hochglanzpoliertem Metall. Baumann flickte ihn und brachte das edle Stück eigenhändig nach Zürich zurück, weil er eine Rolls Royce-Besonderheit begutachten wollte: «Der Schirm wird in einem Köcher aufbewahrt, der in die Carrosserie eingebaut ist.»

Schirmflickerträume

Und ab und zu bringt einer, der in seiner Werkstatt vorstellig wird, nicht nur einen Schirm zum Flicken, sondern hat dazu auch eine Geschichte zu erzählen. Wie der Gärtner, der an einem Hudelwettertag den Schirm seiner Kundschaft vor die Hinterräder seines Lieferwagens geweht bekam und das Familienerbstück überfuhr. Es war zhudle und zfätze, der Stoff zum Glück noch ganz. Baumann wusch ihn, spannte ihn auf ein neues Gestell und half seinem Kunden das Malheur wieder ausbügeln.

In all den Jahren, die Baumann Schirme flickt, ist ihm der Regenschutz zur Passion geworden. Gewänne er im Lotto, würde er in der Stadt Bern einen Laden samt Atelier eröffnen. Seine Kundschaft nähme er mit in den Wald, wo sie das Holz für den Griff auswählen könnte. Er liesse Stängeli aus Stahl herstellen, bespannte den Schirm mit einem schweren Baumwollstoff und baute eine robuste Mechanik ein, die beim Öffnen ein sattes Klack hören lässt. «Luxus made in Switzerland», sagt Baumann, «eine Visitenkarte für Leute mit Stil.»

Egal ob Porsche-Schirm oder alte Krücke: Bei Baumann sind alle Schirme gleich.
Egal ob Porsche-Schirm oder alte Krücke: Bei Baumann sind alle Schirme gleich.
Bluewin/mn

Serie «Die Letzten ihrer Art»

Nicht nur Sprachen, Kantone und Landschaften sorgen für die Vielfalt der Schweiz – es sind auch Berufe, Orte und Traditionen. Einige von ihnen könnten bald verschwunden sein. «Bluewin» hat deshalb die «Letzten ihrer Art» gesucht. Oben in der Seitenleiste finden Sie die übrigen Beiträge.

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