Rezension Das Unglück der Männer – Michel Houellebecqs neuer Roman «Vernichten» 

Von Sabine Glaubitz, dpa

22.1.2022 - 18:01

Der französische Autor Michel Houellebecq bei einer Lesung 2017 in Frankfurt am Main.
Der französische Autor Michel Houellebecq bei einer Lesung 2017 in Frankfurt am Main.
Bild: Keystone/DPA/BORIS ROESSLER

Unter dem Deckmantel eines Spionageromans arbeitet Michel Houellebecq in seinem neuen Buch weiter an seinem Welt- und Menschenbild – jedoch weniger düster als sonst. Überraschend ist etwas ganz Anderes.

DPA, Von Sabine Glaubitz, dpa

Frankreich im Wahljahr 2027: Im Rennen um die Spitze des französischen Staates liegen die Kandidaten der gemässigten Regierungspartei und der rechtsextremen Rassemblement National.

Ein Anschlag auf ein Migrantenschiff mit 500 Toten ändert schlagartig die Situation – zuungunsten der rechtspopulistischen Sammlungsbewegung. 

In seinem neuen Buch «Vernichten» seziert Michel Houellebecq wieder den Zeitgeist. Doch seine Vision von der Welt und den Menschen ist diesmal weniger zynisch und provokativ, weniger düster. Einige französische Kritiker warfen ihm sogar vor, banal geworden zu sein.

Fällt ihm nichts mehr ein?

Die Kulturzeitschrift «Les Inrockuptibles» fragte sich sogar, ob der Schriftsteller von seiner Zeit nun völlig überfordert sei. «Vernichten» ist der achte Roman des heute 65-Jährigen. Unter dem Titel «Anéantir» ist er in Frankreich am 7. Januar erschienen. 

Im Mittelpunkt des über 600 Seiten langen Werks steht Paul Raison, der beim französischen Finanzministers Bruno Juge arbeitet. Dieser weist grosse Ähnlichkeit mit Bruno Le Maire auf, dem aktuellen Ressortchef der Mitte-Links-Regierung.

Houellebecq stellt ihn als Superminister dar, der die industrielle Herausforderung Frankreichs mit Bravour meistert. In dem Präsidenten, der in dem Buch seine zweite Amtszeit beendet, ist Emmanuel Macron zu erkennen, Frankreichs jetziger Staatschef.



Der Roman beginnt als Spionageroman. Videos werden von Hackern im Internet verbreitet, insbesondere eines, in dem Bruno Juge guillotiniert wird, eine Montage. Andere zeigen hingegen das reale Torpedieren von Containerschiffen und die Zerstörung einer Samenbankfirma. Die Geheimdienste tappen im Dunkeln. Sie wissen nicht, ob es sich bei den Terroristen um Ultralinke, Fundamentalisten oder okkulte Aktivisten handelt. 

Kritik an der Globalisierung

Wie in allen seinen Büchern zeichnet Houellebecq ein Porträt unserer Zeit: Digitalisierung der Wirtschaft und Gesellschaft, Handelskrieg zwischen Amerika und China, Arbeitslosigkeit, zunehmender Rassismus. Und so wie in seinen vorherigen Werken, übt er Kritik an der globalisierten, fortschrittsorientierten Gesellschaft. 

Paul ist ein typischer Houellebecq-Antiheld. Der knapp 50-Jährige ist lebens- und liebesmüde so wie Florent-Claude in «Serotonin» (2019), François in «Unterwerfung» (2015), Daniel in «Die Möglichkeit einer Insel» und Michel in «Plattform» (2001).

Und so steckt Paul in einer tiefen persönlichen Krise. Seine Ehe mit Prudence ist zerrüttet; ihre Libido ist seit fast zehn Jahren ins Stocken geraten. Sein Vater, ein ehemaliger Geheimdienstler im Ruhestand in Beaujolais im Burgund, ist gerade einem Hirninfarkt zum Opfer gefallen und liegt im Wachkoma. Und sein Bruder Aurélien, Restaurator von Kunstwerken, hat sich erhängt. 

Es gibt auch Hoffnung

Houellebecqs neuer Roman trägt alle typischen Stilelemente. Sein Protagonist verkörpert weiter ein als frauen- und menschenfeindlich kritisiertes Weltbild. Doch wie schon in «Serotonin» ist die Schreibe Houellebecqs gemässigter.

Nur hin und wieder kommt mit voller Wucht der Houellebecq der Frühwerke durch: «Die menschliche Welt schien ihm aus selbstsüchtigen kleinen, nicht miteinander verbundenen Kackwürsten zu bestehen, manchmal kamen die Würste in Bewegung und kopulieren nach ihrer Art[…]. Wie hatte ein Gott sich entscheiden können, in der Gestalt einer Kackwurst wiedergeboren zu werden?» Das Buch wäre kein echter Houellebecq, gäbe es nicht auch pornografische Ausführungen.



Unter dem Deckmantel des angehenden Thrillers strickt der Autor seine Gedanken über den Tod fort, ein oft bei ihm bestimmendes Thema. Und über die Liebe. Denn Paul findet wieder mit seiner Frau zusammen und mit seinem Vater. Doch der Titel des Buchs lautet «Vernichten» und Houellebecq ist kein Autor, der auf ein Happy End setzt.

Paul erfährt, dass er Kieferkrebs hat. Der Autor hat seine Melancholie nicht verloren, auch nicht seine Beobachtungsgabe unserer Zeit. Seit «Unterwerfung» schockiert er aber weniger. In dem 2015 veröffentlichten Roman geht es um ein Frankreich im Jahr 2022 unter der Flagge des Islams. Das sorgte damals, im Jahr der verheerenden islamistischen Anschläge in Paris, für viel Zündstoff. Aus Angst verliess der Autor sogar die französische Hauptstadt.

Zu bedauern ist, dass das Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Geheimdiensten und den mysteriösen Hackern ins Leere verläuft und die persönliche Geschichte von Paul die Oberhand gewinnt. Mehr Parallelität wäre wünschenswert gewesen. Verwirrung stiftet ein Satz in der Danksagung: «Ich bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt; für mich ist es Zeit aufzuhören.»

Verkündet hier einer der bekanntesten Bestsellerautoren der Welt sein Karriereende?