«Ein Wochenende» Nach einem Todesfall definieren drei Frauen ihre Freundschaft neu

Von Charlotte Wood

7.8.2020

Der Roman «Ein Wochenende» von Charlotte Wood erzählt die Geschichte von drei Frauen, die ihre Freundschaft nach dem Tod einer gemeinsamen Freundin neu definieren müssen. (Symbolbild)
Der Roman «Ein Wochenende» von Charlotte Wood erzählt die Geschichte von drei Frauen, die ihre Freundschaft nach dem Tod einer gemeinsamen Freundin neu definieren müssen. (Symbolbild)
Bild: Getty Images

Was ist das Mysterium einer langen Freundschaft? Schriftstellerin Charlotte Wood sucht in ihrem neuen Roman «Ein Wochenende» nach Antworten auf diese Frage.

Schriftstellerin Charlotte Wood ist in ihrer Heimat Australien eine wichtige Stimme. Ihr Roman «Der natürliche Lauf der Dinge» aus dem Jahr 2017 war auch international erfolgreich. Nun ist vor einigen Wochen ihr neuer Roman «Ein Wochenende» auf Deutsch erschienen – er steht bereits seit mehreren Wochen auf der «Spiegel»-Bestsellerliste. Die Originalausgabe wurde im Rahmen des diesjährigen Australian Book Industry Award als Literary Book of the Year ausgezeichnet.

In ihrem neuen Buch erzählt Wood von den drei nicht mehr ganz jungen Frauen Jude, Adele, Wendy, die ihre Freundschaft nach dem Tod der gemeinsamen Freundin Sylvie neu definieren müssen. Ein Buch, das zum Nachdenken über die eigenen Freundschaften und das Älterwerden einlädt.

«Bluewin» publiziert exklusiv das leicht gekürzte zweite Kapitel. Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.

«Ein Wochenende» – Kapitel 2

Jude parkte auf dem Stellplatz auf der ebenen Fläche unterhalb des Hauses und achtete darauf, zwischen ihrem Auto und der Stützmauer aus Sandstein genügend Platz für Wendy zu lassen.

Es überraschte sie jedes Mal, dieses kleine Glücksgefühl, das sie empfand, wenn sie den Hügel nach Bittoes hinunterfuhr, diese zerstreute Ansammlung von Häusern auf der schmalen Landzunge zwischen Bucht und offenem Meer. Selbst nach all den Jahren, und obwohl sie den Ort so gut kannte, und trotz der Arbeit und der Ärgernisse, die sie in den kommenden Tagen erwarteten, rief die Ankunft in Bittoes die alte Ferienstimmung in ihr hervor.

Ein irriges Gefühl. Sie stieg aus und sah hoch: Das Haus auf seinen hohen Pfeilern thronte über ihr, seine düstere olivgrüne Holzverkleidung verschmolz mit dem umliegenden Busch und dem hellen Himmel. Eine Holztreppe führte im Zickzack vom Stellplatz bis ganz nach oben, unterbrochen von zwei breiten, quadratischen Absätzen, auf denen man wieder zu Atem kommen konnte. Zwei Balkone ragten in unterschiedlichen Winkeln vor - ein kleiner, dreieckiger vor dem großen Schlafzimmer im oberen Stock, und ein viel größerer, der sich um das ganze untere Stockwerk herumzog. Selbst von hier unten konnte sie sehen, dass alle Türen zum unteren Balkon geschlossen und die Vorhänge zugezogen waren, Adele war also noch nicht da. Sie hatte ihnen versprochen, den frühen Zug zu nehmen, es aber offensichtlich nicht getan. Was Jude kein bisschen verwunderte. Sie war zwar verärgert, empfand jedoch gleichzeitig eine gewisse Befriedigung, wie gut sie Adele kannte.

Am rechten Rand des Grundstücks führten die rostigen Schienen eines alten Schrägaufzugs steil nach oben.

Vom Stellplatz aus konnte man das Wasser wegen der anliegenden Häuser und Gärten nicht sehen, aber man konnte hören, wie es träge und rhytmisch gegen die Kaimauer schwappte. Ein Außenborder wimmerte leise, dazu kamen andere Motorengeräusche - Laubbläser auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht, Rasenmäher, ein Staubsauger in einem Haus ein Stück weiter. Feiertagsbesucher oder Putzkräfte, die alles für Weihnachten vorbereiteten. Die feuchte Luft roch nach der Bucht, salzig und fischig.

Charlotte Wood stammt aus New South Wales, Australien. Sie ist Journalistin und Autorin von sechs Romanen und zwei Sachbüchern. Ihren nationalen sowie internationalen Durchbruch erreichte sie 2016 mit «Der natürliche Lauf der Dinge», das u. a. den Stella Prize gewann. Sie lebt in Sydney.
Charlotte Wood stammt aus New South Wales, Australien. Sie ist Journalistin und Autorin von sechs Romanen und zwei Sachbüchern. Ihren nationalen sowie internationalen Durchbruch erreichte sie 2016 mit «Der natürliche Lauf der Dinge», das u. a. den Stella Prize gewann. Sie lebt in Sydney.
Bild: Chris Chen

Jude ging mehrmals hin und her, schleppte ihre Taschen und Kartons voller Lebensmittel zum Schrägaufzug und stellte sie auf die rostige metallene Plattform. Sie schloss das Auto ab, indem sie auf das mattschwarze kleine Ding in ihrer Hand drückte, und betrat die Plattform, die unter ihrem Gewicht schwankte.

Als Sylvie das Haus in den achtziger Jahren gekauft hatte, war nicht mal dem Makler aufgefallen, dass es den Schrägaufzug gab, der völlig von Wandelröschen überwuchert war. Monatelang hatte Sylvie ihre Sachen keuchend die endlose Treppe hinauf und hinunter geschleppt, bis Gail den immer noch funktionierenden Aufzug entdeckte. Sie musste Sylvie - die in Melbourne aufgewachsen war, wo es zu flach war, um so etwas zu brauchen - beibringen, wie man ihn benutzte. Als Sylvie das erste Mal damit fuhr, klammerte sie sich ans Geländer und kreischte den ganzen Weg nach oben vor Begeisterung – Es ist eine Schwebebahn!–, als wäre sie auf einem Rummelplatz.

Jude hasste das quietschende Ding, hatte es immer gehasst und so lange wie möglich gemieden. Aber wegen ihres Rückens war die Treppe für sie schon seit einiger Zeit kaum noch zu bewältigen. Sie zog die kleine Kette hinter sich zu und hakte sie ein - als könne die einen vor irgendwas bewahren! Das Bedienpult hätte zu einem Raumschiff aus einem Zeichentrickfilm aus den Fünfzigern gehören können, der dicke Ein-und-Aus-Knopf saß nur noch lose in seiner Gummihalterung. Sie drückte ihn und wartete – jedes Mal war es ein Schock, wenn das Ding nach einem kurzen Augenblick tatsächlich ansprang. Die Plattform setzte sich ruckend in Bewegung, und Jude hatte das Gefühl, frei zu schweben, während sie langsam an den ersten Stufen vorbeigetragen wurde. Sie drehte sich zu den Bäumen um, klammerte sich an dem wackeligen Metallgeländer fest und schaute nicht nach unten, als sie den dichtbewachsenen steilen Hang entlang immer höher stieg. Trotzdem sah sie Bilder des in sich zusammenbrechenden rostigen Aufzugs, der sie hinabschleuderte auf Felsen und Gestrüpp. Und niemand da, der es merken würde.

Die Bucht glitzerte hinter den Bäumen, doch sie konnte nur kurz hinschauen, während sie das Ende des stotternden, gefährlichen Aufstiegs heraufbeschwor. Als das Ding tatsächlich anhielt, geschah es so abrupt, dass sie fast das Gleichgewicht verloren hätte. Sie löste die Kette und trat so schnell es ging über den klaffenden Spalt hinweg auf die festen Bretter des Balkons.



Der Schlüssel lag an seinem üblichen Platz unter dem Buddhakopf in der Ecke, neben dem großen Fass, das als Fischteich diente. Sie warf einen Blick hinein; das Wasser war niedrig und sah schlierig aus, aber die Pflanzen lebten noch, gerade so. War es möglich, dass es in diesem Wasser noch Goldfische gab?

Wer von ihnen war als Letzte hier gewesen? Nicht sie, und nicht Adele - Liz mochte Bittoes nicht und empfand offenbar eine seltsame Abneigung gegen das Haus. Vielleicht Wendy, um an ihrem endlosen Buchprojekt zu arbeiten? Jedenfalls käme Wendy nie auf die Idee, den Fischteich aufzufüllen.

Jude zerrte den Schlauch von der Waschküche hinter dem Haus nach vorn, stopfte ihn bis auf den Boden des Fasses und drehte den Hahn auf. Schmutziges Wasser fing an zu strudeln. Sie sah nicht hin, wollte nicht sehen, wie die aufgequollenen weißen Bäuche toter Fische an die Oberfläche trieben.

Konnte es sein, dass niemand hier gewesen war seit Sylvies Tod?

Der kurze Blick auf das aufgewühlte Wasser mit den aufsteigenden schwarzen Schlammklumpen löste in ihr Unbehagen aus. Lächerlich! Sie wartete, bis das Fass voll war, drehte den Hahn ab und zog am Schlauch. Als er herausglitschte, kam eine verschwommene Erinnerung in ihr hoch, wie sie vor Jahren nach einer Darmspiegelung aufgewacht war. Es war nicht unangenehm, eher seltsam gewesen, der leichte Druck eines Schlauchs, der aus ihrem Körper glitt. Danach gab sich ihr Bewusstsein erneut der Betäubung hin.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss.

Drinnen war es so heiß, dass sie nach Luft schnappte. Das Wohnzimmer war eine dunkle Höhle, und es roch extrem modrig. Sie zog die Vorhänge der Fenstertüren auf, die an ihren schweren Holzringen über die Stangen klapperten. Sonnenlicht fiel herein. Um die eingerosteten Balkontüren zu öffnen, musste sie an den Riegeln zerren und sich dagegenstemmen. Dann schob sie einen schweren Balkonstuhl gegen jeden Flügel, um sie offenzuhalten.

Das Cover des neuen Romans von der australischen Schriftstellerin Charlotte Wood.
Das Cover des neuen Romans von der australischen Schriftstellerin Charlotte Wood.
Bild: Kein & Aber

Als sie sich wieder zum Raum umwandte, sah sie sich der großen, weißen Couch gegenüber, die sie Sylvie überlassen hatte, kurz bevor sie krank geworden war. Sie war immer noch schön. Und sie war nicht weiß, sondern elfenbeinfarben. Jude ließ sich darauf fallen und strich mit den Fingern über die Armlehne. Seidene Fäden zogen sich schimmernd durch das Material, wie Spinnweben im Regen. Auf der schönen Couch sah sie sich in dem schäbigen Zimmer um. Es war eine Schande, wie Sylvies billige, verwohnte Sachen von der Eleganz der Couch ablenkten. Die dick gepolsterten alten Sessel mit ihren rissigen rehbraunen Lederbezügen und den abgegriffenen Armlehnen, der wuchtige Holztisch mit seinen Kratzern und Dellen. Die horizontal verlaufende Kiefertäfelung an der Südwand des Zimmers sah inzwischen eher orange als golden aus. Alles hier müsste komplett renoviert werden - man müsste die Räume weiß streichen und den ganzen alten Krempel rauswerfen. Aber nichts davon spielte noch eine Rolle, weil es nicht mehr Sylvies Haus war, es gehörte jetzt Gail, und bald würde es ganz anderen Leuten gehören.

Jude stand auf. Während sie durch das Haus ging, wurde ihr Inneres von derselben samtigen Stille erfüllt wie bei jenen wenigen Malen, als sie durch eine Kirchentür getreten war. Gut möglich, dass sie die Erste war, die seit Sylvies Tod durch diese Zimmer ging.

Was hatte das zu bedeuten?

Nichts. Es hatte nichts zu bedeuten. Außer eine Menge Arbeit. Es war ein unbewohntes Haus voller Müll, der weggeschafft werden musste. Und wie üblich war Jude die Einzige, die sich zum angekündigten Zeitpunkt eingefunden hatte.

Sie machte sich an die Arbeit, ließ Jalousien hochschnappen, riss Fenster auf, entriegelte alle verzogenen Glastüren im Wohnzimmer und in den Schlafzimmern. Einige der Rahmen waren aufgequollen; man hatte sich schon immer mit ihnen abmühen und an ihnen herumzerren müssen, wenn sie eine Weile nicht geöffnet worden waren ...


Bibliografie: Ein Wochenende, Charlotte Wood, aus dem Englischen von Brigitte Walitzek, 288 Seiten Kein & Aber, ca. 28 Fr.

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