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Lebensgeschichte Prostitution – der schmerzhafte Weg aus den Fängen meines Reitlehrers
Von Katharina M. und Barbara Schmid
24.4.2020
Katharina M. verliebt sich mit 14 in einen 30 Jahre älteren Mann. Was folgt, sind die grosse Liebe und noch grössere Versprechen. Am Ende landet die Frau in der Prostitution. Protokoll einer verhängnisvollen Verführung.
Katharina M. verliebt sich als Teenagerin auf einem Reithof in Deutschland in einen über 30 Jahre älteren Mann. Der Reitlehrer verspricht ihr eine gemeinsame Zukunft. Doch insgeheim verfolgt er einen anderen Plan: Katharina M. soll für ihn als Prostituierte anschaffen gehen. Für das Mädchen ist das der Beginn eines elf Jahre langen Martyriums.
Katharina M. ist auf die Masche eines Loverboys hereingefallen. In ihrer Autobiografie «Schneewittchen und der böse König», die dieser Tage erschienen ist, erzählt sie ihre Lebensgeschichte. Zusammen mit der Journalistin Babara Schmid gelingt es ihr, ein Bild einer destruktiven Beziehung und eines Psychopathen zu zeichnen und zu zeigen, wie er durch Manipulation und Entfremdung eine unbedarfte Teenagerin auf seine Seite ziehen konnte.
Nach dem Martyrium wieder ins Leben zu finden, war eine riesengrosse Herausforderung für Katharina M. Aber sie hat es geschafft. Heute arbeitet sie bei einem Steuerberater. Nachdem sie nach eigener Schätzung über 25'000 Freier gehabt hat, ist sie froh, dass sie nun vor allem mit Zahlen und Akten zu tun hat. Aber es gibt ein Problem: Der Reitlehrer wird voraussichtlich im kommenden Sommer aus der Haft entlassen.
«Bluewin» publiziert exklusiv das Kapitel «Mein Bruder». Die kursiven Textstellen sind Einträge aus dem Original-Tagebuch von Katharina M.
«Du tust mir weh, bitte lass mich»
»Jeder Freier darf dich ficken, nur ich nicht«, rastet Heinz wieder mal völlig aus. Es ist morgens früh, irgendwas gegen sechs Uhr. Wir haben den 1. April 2006, bis in den Morgen haben sich die Gäste ein paar deftige Aprilscherze erlaubt. Als die letzten Männer weg waren, habe ich noch ein bisschen aufgeräumt und dabei einen letzten Prosecco getrunken. Jetzt will ich eigentlich nur noch schlafen. In ein paar Stunden geht es ja schon wieder los. Heinz liegt wach im Bett, eigentlich steht er ja gleich auf. Und er will Sex. Ich aber nicht. Mir reichen die ganzen Freier, die ich gerade hatte. Jetzt will ich meine Ruhe. Doch das bringt Heinz so richtig auf die Palme.
Was ich mir denn einbilde, ich blöde versoffene Drecksau. Er springt aus dem Bett und Sekundenbruchteile später habe ich schon die erste Faust im Gesicht. Er ist völlig außer sich. Gerade hat er noch im Bett gelegen und jetzt kommt er wie ein Rollkommando über mich. Gnadenlos. Ich versuche, mich zu wehren und vor allem meinen Kopf zu schützen, aber er ist so schnell und ich bin so fertig und betrunken. Ich habe keine Chance gegen ihn. Er zerrt an meinen Sachen. Viel habe ich ja eh nicht an. Ein kurzes Top und einen ultrakurzen Minirock. »Ich werde dir schon zeigen, wo es langgeht, mit jedem rumvögeln und dich bei mir so anstellen«, brüllt er mich an und langt mir noch eine kräftig ins Gesicht. Dann dreht er sich um und holt aus dem Schrank die Stricke raus. Das sind Stricke, wie sie im Stall für die Pferde verwendet werden. Heinz hat sie für Sadomaso-Behandlungen mit in den Club gebracht.
Es gibt ja Freier, die auf Fesselspiele stehen. Diese groben Stricke nimmt er jetzt raus und schmeißt mich aufs Bett. »Du elende Drecksau, ich zeige dir jetzt, wer hier was zu sagen hat.« Er kniet sich auf mich, fesselt meine Hände und bindet sie an den Bettpfosten fest. Dann nimmt er meine Füße und bindet sie auch fest. Ich liege auf dem Bauch und kann mich nicht mehr rühren. »Du tust mir weh, bitte lass mich.« Die Stricke schneiden mir in die Haut. Heinz ist immer noch völlig in Rage. Jetzt schlägt er mir auf den Rücken, er hat ein Stück Gartenschlauch gefunden. Es tut unendlich weh. »Hör auf, du tust mir weh, hör bitte auf.« Aber er schlägt immer weiter. Plötzlich hört er auf. Ist es vorbei? Aber nein, er hat jetzt eine Haselnussrute aus seinem Schrank geholt, mit der er weiterschlägt, und es tut noch viel mehr weh. Mein Rücken platzt auf. Ich werde fast verrückt vor Schmerzen. Für Sekunden oder Minuten verliere ich das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir komme, spüre ich, wie er von hinten in mich eindringt. Mit aller Wucht. Mein Rücken brennt, die Stricke schneiden meine Handgelenke immer mehr ein. Ich kann mich nicht wehren und muss es einfach ertragen. Ich schaue meine Hände an, weine und warte, bis es vorbei ist. Irgendwann steigt er runter, zieht sich seine Hose an und lässt mich wie den letzten Dreck einfach liegen. Gefesselt und blutig geschlagen. Er nimmt seinen Schlüsselbund und geht. Der wird mich doch nicht so liegen lassen? Ich höre, wie er seinen Wagen anlässt und wegfährt. Das kann er doch nicht machen? Er wird doch zurückkommen? Er will mich nur quälen. Er kommt doch gleich? Ich liege da und kann nur noch weinen. Heinz kommt nicht zurück. Mein Rücken brennt, meine Hände werden langsam taub, und ich kann mich nicht selbst befreien. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist. Draußen wird es langsam hell, ein bisschen Licht dringt durch die dunkelblauen Vorhänge. Und ich müsste dringend zur Toilette. Aber es ist niemand da, der mir helfen kann. Mit aller Kraft versuche ich, es zu unterdrücken. Ich will nicht auch noch ins Bett pinkeln müssen. Aber irgendwann merke ich, wie es nass wird unter mir.
Vor lauter Erschöpfung muss ich eingeschlafen sein und werde wach, als ich höre, wie Heinz die schwere Metalltür aufsperrt. »Du bist eine Drecksau«, sind seine ersten Worte. »Schau dich an, wie runtergekommen du bist, du liegst in deiner eigenen Pisse.« Aber er macht mich wenigstens los. Ich bin froh, dass es vorbei ist. Mein Rücken, die Hände und Füße tun mir unwahrscheinlich weh, aber ich muss das hier alles sauber machen. Das ist mir so peinlich. Ich ziehe das Bett ab, versuche die Matratze so gut es geht mit einem Schwamm und Seifenwasser zu reinigen und föhne sie anschließend trocken. Fast bin ich fertig, da kommt Heinz noch mal ins Zimmer und sagt: »Du wolltest es ja so, du brauchst das.«
Heinz hat mich ja schon oft verprügelt
Anschließend versuche ich, irgendwie so normal wie möglich weiterzumachen. Heinz hat mich ja schon oft verprügelt, ans Bett gefesselt und dann noch zur Krönung vergewaltigt. Aber so schlimm war es schon länger nicht mehr. Mein Rücken ist aufgeplatzt von oben bis unten. Das tut höllisch weh. Jede Bewegung bereitet mir Schmerzen. Ich muss trotzdem arbeiten. Der Abend ist fast schon vorüber. Als ich mir zwischendurch mal die Hände wasche, verrutscht mein knappes Oberteil, und Oxana, eine der Frauen, sieht meinen kaputten Rücken. Sie zieht mein Oberteil ganz nach oben, damit sie alles sehen kann. »Dieses Schwein«, sagt sie, und ich versuche, sie zu beruhigen: »Oxana, lass es gut sein. Das bringt nichts, wenn wir uns jetzt aufregen. Das macht es nur noch schlimmer.«
Ich habe immer versucht, die Frauen rauszuhalten. Klar wissen sie, was Heinz mit mir macht. Aber was bringt es denn? Nachher geht er auch noch auf die Frauen los. Die muss ich doch schützen, das ist doch meine Familie. Aber Oxana lässt sich nicht beruhigen. Sie hat schon einiges getrunken an dem Abend. Und dann geht sie runter in den Hof, wo der Mercedes von Heinz steht. Sie schnappt sich das Erste, was ihr in die Hände kommt: eine Schaufel, und damit schlägt sie wütend auf das ganze Auto ein, sogar ein paar Scheiben gehen dabei kaputt. Ich kriege das erst mit, als ich den Lärm höre. Ich renne runter, bleibe in der Tür stehen und sehe, was sie angerichtet hat.
Oh Gott, ich muss jetzt gleich zu Heinz und es ihm sagen. Er wird ausrasten! Ich renne an den Zimmern vorbei, hinter in unsere Wohnung. Dorthin, wo Heinz normalerweise um diese Uhrzeit schläft. Doch Heinz hat die Bescherung schon gesehen und kommt wutentbrannt auf mich zugelaufen: »Wer war das?« Und ich sage nur: »Ich.« In dem Moment will ich nur die Frau schützen, ich weiß ja, wozu er imstande ist. Zum Nachdenken bleibt keine Zeit mehr. Heinz schlägt mir sofort ins Gesicht. Er brüllt und tobt. Was mir Drecksau denn einfällt. Er will mich aus der Tür treten. Damit jeder sieht, was ich für eine Drecksschlampe bin. Und ich klammere mich an den Türrahmen. Er tritt mir in den Magen, seine Schuhe haben verstärkte Kappen vorne, es tut höllisch weh. Mir bleibt die Luft weg. Aber ich will nicht, dass er mich auf die Straße wirft. Ich will nicht. Er prügelt auf mich ein, schimpft und tobt. Er schlägt und tritt. Und lässt mich zusammengeschlagen auf dem Boden liegen.
Nach einer Weile rapple ich mich wieder auf und gehe in die Bar. Ich muss jetzt dringend was trinken. Renate erzählt mir, was in der Zwischenzeit passiert ist: Heinz hat sich von ihr noch einen Kaffee kochen lassen und hat dann die Polizei angerufen, sein Auto sei beschädigt worden, sie sollen kommen und eine Schadensmeldung aufnehmen. Die Anzeige wird gegen Unbekannt gestellt. In den Tagen danach ist es so, wie es immer ist, wenn Heinz so ausgerastet ist: Es wird nicht darüber gesprochen. Keine Andeutung. Nichts. Die Einzige, die immer mit mir weint, ist Renate. »Wie hältst du das bloß aus?«
Irgendwann lässt sich Heinz etwas Neues einfallen, um mich zu quälen: Er bringt mir nichts zu essen mit. Lange Zeit hätte mich das nicht gestört, da war ich magersüchtig und habe tagelang nichts zu mir genommen. Aber jetzt? Ich habe Hunger und muss endlich was essen. Ich kann ja nicht rausgehen wie die anderen und mir etwas kaufen. Die Welt da draußen macht mir Angst. Für die Hunde bringt Heinz allerdings immer etwas mit. Vor ein paar Wochen hat Heinz mir zwei Chihuahuas mitgebracht, Quino und Toti. Es hat mich schon gewundert, dass er sie mir nach dem Riesenstreit dagelassen hat. Er weiß ja, wie ich an Tieren hänge, und es tut mir immer wieder weh, wenn er sie mir wegnimmt. Meist sind sie nur auf einem Zwischenstopp bei mir, bis er sie verkauft hat. Die beiden haben Hunger und schauen mich aus ihren großen braunen Kulleraugen an. Ich muss an Spike denken, meinen eigenen kleinen Hund, den mir meine Eltern verboten hatten. Er lebte auf dem Hof bei Heinz, bis ihn sein Kampfhund umgebracht hat. Tränen laufen mir über das Gesicht, als ich an den lieben kleinen Kerl denken muss, der niemandem auf der Welt etwas getan hat. Warum muss alles nur so schrecklich enden bei mir? Auch mein Pferd Manitoba ist grausam gestorben, unter schrecklichen Schmerzen.
Mich plagt der Hunger. Ich hole den Hunden eines der kleinen Döschen, die Heinz für sie mitgebracht hat, 150 Gramm. Es riecht lecker. Und mir ist fast schlecht vor Hunger. Ob ich mir davon etwas abzweigen kann? Ein Löffelchen nur. »Tut mir leid, meine Süßen«, sage ich zu ihnen, »wir müssen teilen.« Und dann teile ich den Doseninhalt in drei gleiche Teile. Als die Dose leer ist, kratze ich mit dem Finger die letzten Bröckchen aus den Ecken. Kann man so tief sinken, dass man kleinen Hunden das Futter wegisst? Man kann, ich kann.
Eigentlich habe ich rund um die Uhr gearbeitet – und getrunken
Beim Schreiben dieses Kapitels fällt mir ein, wie kaputt ich damals war. Eigentlich habe ich rund um die Uhr gearbeitet – und getrunken. Ein paar Stunden Schlaf und schon ging es weiter. Ich hatte überhaupt keine Zeit, über mein Leben nachzudenken. Mit ein wenig Abstand mal zu reflektieren, was ich hier eigentlich tue. Ich war Hure, Tänzerin, Bardame, Hausmeisterin, Putzfrau und Buchhalterin, habe die Abrechnungen für alle gemacht. Sieben Tage in der Woche. Ohne Ende. Ohne Pause einfach immer weiter. Ich wusste nicht mehr, welchen Tag wir haben oder in welcher Jahreszeit wir uns gerade befanden.
Aus dem einen Jahr, in dem ich für den eigenen Reitstall anschaffen gehen sollte, waren inzwischen fünf geworden. War mir das damals eigentlich klar? Ist mir das so durchgegangen? Wenn ich heute darüber nachdenke, dann war das die Zeit, in der ich schwere Depressionen bekam. Eine Zeit, in der die Welt da draußen für mich völlig verloren gegangen ist. Ich befand mich in einer Endlosschleife aus Gewalt, Demütigungen, viel zu viel Alkohol und völliger Erschöpfung. 2006 war wirklich das schlimmste Jahr, was die Gewalttätigkeiten von Heinz anging. Ich frage mich oft, wie ich das überhaupt überlebt habe. Vielleicht waren es die wenigen schönen Momente mit anderen Männern, die mir damals geholfen haben, zu überleben.
Es gibt immer wieder Gäste, die sich in mich verlieben, die mich retten wollen. Und in einem Fall empfinde auch ich etwas für diesen Mann. Er hat ein gut gehendes Modehaus, und ich habe ihn schon vor zwei Jahren, 2004, als Freier kennengelernt. Er ist groß, schlank, sehr gepflegt und hat ganz warme dunkelbraune Augen. Er kommt jetzt regelmäßig zu mir, wir sitzen dann im Separee und trinken Champagner. Er hat mir immer wieder gesagt »Ich hol dich hier raus« und meint: »Du hast was Besseres verdient.« Ich glaube, ich habe mich ein bisschen in ihn verliebt. Er bringt Wärme in mein Leben, etwas Freude. Er hat meinen Rücken gesehen und ist ganz entsetzt. Wer mir das denn angetan hat? Der »Master of Disaster«! Mein böser König!
Doch einfach gehen? So leicht ist das nicht. Ich versuche, ihm das immer wieder klarzumachen. »Die Leibeigenschaft ist doch längst abgeschafft ...«, sagt er mir einmal. Wo soll ich denn hin? Außerdem ist er verheiratet. Seitdem ich das weiß, bin ich ganz unsicher geworden. Soll ich das alles aufgeben für einen Mann, der mir nie ganz gehören wird?
Heinz riecht den Braten. Er bekommt sofort mit, dass da jemand ist, der mich interessiert. Und dann kehrt er den großen Charmeur raus. Das kann er besser als jeder andere. Plötzlich ist er wieder der Heinz, in den ich mich verliebt habe, ist zärtlich und aufmerksam. Jetzt hält er mir morgens wieder die Bettdecke hoch, damit ich drunterschlüpfen kann. Wenn er mich dann in den Arm nimmt, fühle ich mich so geborgen wie bei keinem anderen Mann auf diesem Planeten. Bald habe ich Geburtstag, werde 24 Jahre alt. Und ich hoffe, dass dieses furchtbare Jahr doch noch ein gutes Ende nimmt.
Am 22. Dezember feiern wir nicht nur meinen Geburtstag, sondern machen auch unsere traditionelle Weihnachtsfeier im Club. Diesmal ist es ein Freitag und die Bar ist gut besucht. Vorgestern haben wir schon den großen Weihnachtsbaum aufgestellt, den Heinz für mich mitgebracht hat. Ich habe feinsäuberlich Lamettafäden über die Zweige gehängt, dazu dunkelrote Kugeln. Und es gibt wie immer ein großes Buffet für die Stammgäste und die Frauen, die hier mit mir arbeiten. Die Taxifahrer sind auch eingeladen und es gibt Weihnachtsmusik. Die Taxifahrer sind wichtig für unser Geschäft. Am Anfang haben sie fünf Euro pro Gast bekommen, damit sie die Leute, die was erleben wollten, nicht woanders hingefahren haben. Später haben sie von uns profitiert, weil wir ihnen gute Fahrten zugeschanzt haben. Im Gegenzug haben sie für mich eingekauft und waren immer zur Stelle, wenn ein unliebsamer Gast schnell weggefahren werden musste. An der Bar gibt es immer frischen Kaffee für die Fahrer. Das ist ein Geben und Nehmen. Und Weihnachten dürfen sie natürlich auch mit uns feiern.
Eigentlich ist es ganz schön, hier Geburtstag zu feiern. Es gibt Pralinen, Blumen, schöne Geburtstagskarten und sogar ganz dicke, flauschige Socken, weil mir doch immer so kalt ist. Ein Gast kennt meine Vorliebe für Rosenstolz, von der Band habe ich inzwischen viele CDs, ein T-Shirt, Weihnachtskugeln und sogar Streichhölzer. Heute sitze ich schon am frühen Abend mit einem meiner Stammgäste auf dem Sofa und trinke einen Piccolo. Neben mir an der Bar nehmen zwei junge Männer Platz. Den einen kenne ich doch? Es ist Andi, wir waren zusammen in der Grundschule, er war meine erste große Liebe! Er hat immer noch die tollsten blonden Locken. Unübersehbar. Der junge Mann daneben sieht auch sehr gut aus. Ist das vielleicht sein Freund von damals? Es ist schon gut 15 Jahre her, ich bin mir nicht sicher. Außerdem bin ich misstrauisch. Was macht Andi hier und warum ausgerechnet an meinem Geburtstag? Ist das wieder eine Idee meiner Eltern, die mich mit Päckchen und Briefen bombardieren? Die mich immer noch nicht in Ruhe lassen können? Haben sie ihn geschickt?
«Ich bin dein Bruder»
Als mein Stammgast geht, setze ich mich wieder vorne auf meinen Platz an der Theke, und dann kommt der Begleiter von Andi auf mich zu. »Du weißt nicht, wer ich bin?«, fragt er mich. Keine Ahnung, wer soll das sein? Ich weiß wirklich nicht, wer er ist. Er steht vor mir, sieht mir in die Augen und sagt: »Ich bin dein Bruder.« Markus? Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er gerade zwölf, das Nesthäkchen der Familie, hier steht ein großer Mann vor mir. Markus? Ich versuche, meine Fassung zu behalten, und sage so gelassen, wie ich kann, dass das nicht sein kann, da ich ein Einzelkind bin. Aber innerlich tut das mehr weh als alle Schläge, die ich jemals bekommen habe. Ich stehe auf und gehe.
Das war es dann mit meiner Geburtstagsfeier. Auch von Weihnachten will ich nichts mehr wissen. Ich hocke in der Umkleide und muss nur noch weinen. Das Jahr geht so beschissen zu Ende, wie es fast die ganze Zeit über gewesen ist. Warum lässt mich meine Familie nur nicht in Frieden? Warum nicht? Am Anfang haben sie noch versucht, mich und Heinz mithilfe der Polizei zu trennen. Als mein Vater mich dann in Mannheim aufgespürt hat, hat meine Mutter dort in allen möglichen Geschäften und Büdchen im Bordell-Bezirk Briefe für mich hinterlegt und Fotos von mir verteilt. Das muss man sich mal vorstellen, da drückt meine Mutter wildfremden Leuten Fotos von mir in die Hand mit der Bitte, sie mögen mich ansprechen und mir einen Brief von ihr geben. Richtig schlimm wurde es ja dann, als sie wussten, dass ich im »Club Erotica« in Bayreuth bin.
Die Päckchen, Briefe und Privatdetektive, mit denen sie mir mein Zuhause, den Club, schlechtreden wollten, waren nicht alles. Irgendwann versuchten sie es mit der Psycho-Schiene; ich hatte so furchtbare Angst. Heinz hatte mir immer vorhergesagt, dass sie das versuchen würden: »Die sperren dich weg! Für immer!« Und er hat recht behalten. Ende August 2002 kam ein Schreiben bei mir an, von der Stadt Bayreuth, Amt für öffentliche Ordnung. Ich sollte vorbeikommen, sie wollten feststellen, ob mir »Hilfe zu gewähren« sei. Ich hatte um keine Hilfe gebeten. Das konnten nur wieder meine Eltern veranlasst haben. Wenn ich den Termin am 4. September 2002 nicht wahrnehmen würde, drohten sie mir mit »Zwangsmitteln«. Danke, liebe Eltern! Beim Termin, zu dem ich vor Angst schlotternd erschienen bin, ging es um den Vollzug des Unterbringungsgesetzes. Ein Beamter wollte von mir wissen, ob ich Hilfe brauche? Ob ich das alles freiwillig mache? Ob ich selbstmordgefährdet bin? Ende 2002 entschied das Amtsgericht Bamberg, Abteilung für Vormundschaftssachen, dass das Verfahren auf Anordnung einer Betreuung eingestellt wird.
Aber der Terror ging weiter: Im August 2003 stand auf einmal mein großer Bruder Sebastian im Club. Eine der Frauen hatte ihn reingelassen. Als ich ihn gesehen habe, bin ich voller Panik geflohen und musste die Polizei anrufen. Er erhielt Hausverbot und Platzverweis, Heinz hat sich darum gekümmert. Auch meine kleine Schwester Conny stand eines Tages vor der Tür. Ich machte auf, und sie sagte: »Hallo, Katharina.« Ich habe noch gesagt, ich kenne keine Katharina, und schnell die Tür zugeschlagen. Als Nächstes kam die arme todkranke Katze dran. Meine Mutter schickte Micki in einem Wäschekorb in den Club. Das arme Tier war völlig verängstigt. Was hat sie sich nur dabei gedacht? Mir kam es so vor, als hätten sie sich jeden Tag neue Schrecklichkeiten für mich ausgedacht. Dabei wollte ich doch nur meine Ruhe.
Schließlich kam meine Schwester Conny auf die Idee, mir ein Fluchtfahrzeug vor die Tür zu stellen. Ihren alten roten Renault, ihr Baby. Den Schlüssel hatte sie im Radkasten versteckt. Heinz machte sich lustig darüber, ein Schrottauto, mehr wäre ich meiner Familie wohl nicht wert. Wohin sollte ich denn fliehen? Ich traute mich doch gar nicht mehr auf die Straße, aus Angst vor meiner Familie. Wenn sie mich in die Finger bekämen, wäre alles vorbei. Ich, eingesperrt unter lauter Irren. Weg, die ungeratene Tochter. Weg für immer. Ich bekam ja schon Panik, wenn ich einen flaschengrünen Opel Omega gesehen habe. So ein Auto fahren meine Eltern.
Es gab auch eine Zeit, in der meine Mutter ständig im Club anrief. Das erste Mal fiel mir fast der Hörer aus der Hand, als ich abhob und plötzlich meine Mutter in der Leitung hatte: »Hallo, Katharina, hier ist die Mama, deine Mama ...« Ich war völlig geschockt und sagte nur: »Sie müssen sich irren, mein Name ist Sonja, ich kenne keine Katharina.« Damals gewöhnte ich mir an, Hochdeutsch zu sprechen.
Ich wollte nicht mehr so reden wie früher. Meine Mutter hat wieder und wieder angerufen. Ich bekam schon Panik, wenn das Telefon geklingelt hat. Ich habe jahrelang freiwillig nicht mehr telefoniert. Und jetzt steht an meinem Geburtstag mein kleiner Bruder vor mir. Weinend sitze ich eine Ewigkeit in der Umkleide und hoffe, dass Markus weg ist, wenn ich wieder rauskomme. Und dass Heinz nichts mitbekommen hat. Irgendwann kommt Renate und sagt mir, dass die Luft rein sei. Doch die Angst vor meinen Eltern ist plötzlich wieder so präsent, dass ich sie nur mit ein paar Piccolos halbwegs in den Griff bekomme.
Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.
Bibliografie: Schneewittchen und der böse König, Katharina M., aufgezeichnet von Barbara Schmid, 240 Seiten, MVG, ca. 19.90 Fr.