Lerncoach im Interview«Hausaufgaben sind ein grosses Konfliktthema»
Von Runa Reinecke
27.8.2020
Kann man das Lernen lernen? «Ja», meint die Psychologin Elena Arici und verrät im Gespräch mit «bluewin», wie sich sogar unmotivierte Kinder für Hausaufgaben begeistern lassen.
Nicht immer und für jeden läuft es in der Schule optimal. Eine Problemlöserin auf diesem Gebiet ist Elena Arici. Die Psychologin und Lerncoach-Expertin über Homeschooling-Verzweiflung, Wutanfälle, Gummibärli und Verhaltenstechniken, die Kindern auf dem Pausenplatz die Mobbinglust verderben.
Frau Arici, das neue Schuljahr hat begonnen. Kommen gerade besonders viele Anfragen auf Sie zu? Ja, das ist tatsächlich so. Alles ist – sozusagen auf Anfang. Kommt hinzu, dass vielen Eltern durch die Homeschooling-Phase erst bewusst geworden ist, dass ihre Kinder Lernschwierigkeiten haben.
Und diese Phase hat den Alltag vieler Schülerinnen und Schüler, aber auch von deren Eltern komplett auf den Kopf gestellt. Welche Beobachtungen konnten Sie als Lerncoach machen?
Ganz unterschiedliche. Für viele Kinder und Jugendliche gestaltete sich das Homeschooling problematisch, manche Eltern waren überfordert. Die komplette Organisationstruktur, die sonst Aufgabe der Schule war, musste auf einmal von der Mutter oder dem Vater übernommen werden.
Plötzlich richtete sich der Tagesablauf der ganzen Familie nach den Schulzeiten. Kinder, deren Eltern es nicht möglich war, sie zu unterstützen, hatten das Nachsehen. Es gab aber auch Kinder, die von dieser Situation profitiert haben.
Inwiefern?
Kinder, die sich sonst innerhalb des Klassenverbands schnell ablenken lassen, kamen durch den Eins-zu-eins-Unterricht schneller voran als sonst. Insbesondere dann, wenn es den Eltern möglich war, die Kinder intensiv zu betreuen und viel zu erklären. Aber natürlich vermissten sie auch ihre Schulkolleginnen und -kollegen, und darunter haben viele Kinder sehr gelitten.
Zur Person: Elena Arici
Bild: zVg
Elena Arici ist lic. phil. Psychologin FSP und Dozentin. In ihren «Lernwerk»-Praxen in Winterthur und Stäfa verhilft sie Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu einer Verbesserung der Stresstoleranz und Konzentrationsfähigkeit. Neben dem Lerncoaching bietet sie Neurofeedback und Sozialkompetenztraining an.
Haben sich Eltern auch bei Ihnen Tipps geholt, wie sich diese Zeit besser gestalten lässt?
Während die Schulen geschlossen waren, blieben wir mit unseren Klienten via Zoom und über den Online-Chat in Kontakt. Zu dieser Zeit war es relativ ruhig. Erst nachdem das Homeschooling drei bis vier Wochen gelaufen war, bekamen wir vermehrt Anfragen.
Waren die Bedürfnisse seitens Ihrer Klientel anders als vor der Coronavirus-Pandemie?
Es war insofern anders, als Streitigkeiten in der Pause etc. während dieser Zeit natürlich weggefallen sind. Eltern, deren Kinder eher zu aufbrausendem Verhalten neigen oder in der Schule den Klassenclown mimen, hatten es in der Regel leichter.
Die Eltern suchten beispielsweise Hilfe, wenn ihre Kinder besonders zappelig oder unkonzentriert waren, oder sie wollten wissen, wie viel Lern- beziehungsweise Freizeitbeschäftigung okay ist. Einige Eltern waren ratlos, weil sich vor allem die Jugendlichen nur noch mit Gamen beschäftigten, anstatt etwas für die Schule zu tun. Bei mir meldeten sich aber auch Mütter, die gleich mehrere Kinder betreuen mussten und wegen des Homeschoolings an ihre Grenzen stiessen.
Kamen die jüngeren Kinder besser mit dieser Ausnahmesituation klar?
Das kann man pauschal nicht sagen. Für Kinder, die im Schulalltag ständig Konflikte erleben oder sogar gemobbt werden, war es eine gute Zeit. Sie waren froh, dass sie zuhause bleiben durften.
Sind Kinder, die gemobbt werden, eher von Lernschwierigkeiten betroffen?
Nicht generell, jedoch kann dies durchaus vorkommen. Hat ein Kind – um ein Beispiel zu nennen – Schwierigkeiten beim Lesen, ist das für die anderen ein gefundenes Fressen, um sich über das Kind lustig zu machen. Die Betroffenen reagieren oft mit Scham und ziehen sich zurück.
Wird das Kind nicht vom Klassenverband getragen, gerät es eher in den Modus von Flucht und Angst. War es zuvor in der Pause mit Konflikten konfrontiert oder erfuhr grosse Ablehnung von seinen Mitschülern, wird es ihm schwerfallen, sich aufs Rechnen zu konzentrieren. Lernen ist eine Beziehungsangelegenheit: Je wohler wir uns fühlen, desto leichter fällt es uns, kognitive Aufgaben lösen.
Wann sollten Eltern oder Lehrer intervenieren?
Sobald das Kind die Situation als belastend empfindet – je früher gehandelt wird, desto besser. Denn wenn sich das System des Mobbings erst einmal in einer Klasse etabliert hat, wird es schwierig, diese Strukturen zu durchbrechen.
Als Erstes sollte man Kontakt mit der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer des Kindes aufnehmen. Wichtig ist, dass das Kind psychologische Unterstützung bekommt, so wie wir es im Sozialkompetenztraining machen, das wir auch anbieten: Hier lernen die Kinder ihr Verhalten so zu ändern, dass den Angreifern der Spass am Mobbing vergeht.
Wie gelingt das? Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Vor einiger Zeit durfte ich einen Zehnjährigen begleiten. Er kam zu mir, weil er immerzu auf dem Pausenplatz gemobbt wurde. Auf jede Attacke seiner Mitschüler reagierte er mit einem extremen Wutanfall, und es war ihm unmöglich, sich während der nachfolgenden Schulstunde zu beruhigen. Seine aggressive Reaktion triggerte die anderen zusätzlich an, und die Vorfälle wiederholten sich.
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, musste das Kind sein Verhalten ändern. Also arbeiteten wir daran, dass es nicht mehr auf die Provokationen reagierte und stattdessen versuchte, ruhig zu bleiben. Das gelang ihm, indem es in einer heiklen Situation zu sich gedanklich «stopp!» sagte, langsam aus- und einatmete und einen schönen Ort visualisierte, an dem er gerne sein wollte.
Und das funktionierte?
Ja, in diesem Fall hatte sich die Situation schon nach zwei Wochen gebessert. Nachdem er nicht mehr aufbrausend auf die Sticheleien reagierte, hatten die anderen Kinder das Interesse verloren, und die Angriffe hörten auf.
Das Thema Schule – allem voran die Hausaufgaben – stellt so manche Eltern-Kind-Beziehung auf eine harte Probe. Wie gelingt das gemeinsame Lernen?
Die Hausaufgaben sind ein grosses, wenn nicht sogar das grösste Konfliktthema zwischen Kindern und Eltern. Eine typische Situation: Die Mutter oder der Vater besteht darauf, dass die Aufgabe fertig bearbeitet wird, doch das Kind reagiert mit einem Wutanfall.
Manche Eltern bitten ihre Kinder geradezu unterwürfig darum, mitzuarbeiten. Beim Kind kommt an: Wenn ich einen Wutanfall bekomme, reagiert Mami oder Papi nett und freundlich. Das Kind speichert das als Belohnung für sein Verhalten ab. Und wenn das Kind dann ausnahmsweise einmal Lernbereitschaft zeigt, wird es zum Beispiel harsch von der Mutter oder vom Vater gerügt, weil es einen Fehler gemacht hat.
Wie macht man es besser?
Am besten, man reagiert unmittelbar auf den Wutanfall, zum Beispiel mit einer Botschaft wie: «Ich gehe jetzt aus dem Zimmer, und wir reden darüber, wenn du dich wieder beruhigt hast.» Sobald sich die Lage entspannt hat, gilt es dann, gemeinsam Lerneinheiten von jeweils 15 Minuten für die kommenden Tage zu planen. Bei jüngeren Kindern funktioniert das ganz gut mit der Gummibärli-Methode.
Also mit einer Art Belohnungssystem?
Genau. Dafür zeichnet man auf einem Blatt Papier fünf Felder und legt auf jedes einzelne Feld ein Gummibärli. Die Aufgabe für das Kind besteht darin, während der folgenden 15 Minuten aktiv mitzuarbeiten. Jedes Mal, wenn das Kind während dieser Viertelstunde mit einem Wutanfall reagiert oder sich auf eine andere Art verweigert, nimmt man ein Gummibärli weg.
Wichtig ist, dass der Elternteil innerhalb einer Sekunde reagiert, damit das Kind die «Bestrafung» unmittelbar mit dem verweigernden Verhalten verknüpft.
Das Gleiche funktioniert aber auch umgekehrt: Wenn das Kind etwas besonders gut gemacht hat und es sofort dafür gelobt wird, verbindet es diese Erfahrung mit einem guten Gefühl. Je besser die Lernzeit verläuft, desto mehr Gummibärli bleiben dem Kind nach Ablauf der gestoppten 15 Minuten.
Wenn es gut klappt und noch Gummibärli auf den Feldern liegen, hat es sich eine zusätzliche Belohnung verdient. Das kann zum Beispiel etwas Zeit fürs Gamen sein. Ziel der Gummibärli-Übung ist, verfestigte, kontraproduktive Strukturen zu durchbrechen und die positive Selbststeuerung zu erlernen.
Und wenn die Gummibärli-Methode nicht fruchtet und sich das Kind weiterhin verweigert?
Das ist dann ein klassischer Fall fürs Lerncoaching, denn dann wird es schwierig, die eingefahrene Situationen ohne fremde Hilfe wieder aufzulösen. Gemeinsam gehen wir den Ursachen für das Verhalten des Kindes auf den Grund und arbeiten an einer Lösung.
Wenden sich Eltern erst dann an Sie, wenn das Kind bereits durch schlechte Zensuren auffällt und gar nicht mehr bereit ist, etwas für die Schule zu tun?
Das ist sehr unterschiedlich. Oft bestehen die Probleme bereits länger, konnten aber gut von einer engagierten Lehrperson abgefedert werden. Präsent werden sie oft erst dann, wenn eine neue Lehrerin oder ein neuer Lehrer für das Kind zuständig ist. Spätestens wenn das Familienleben stark leidet, rate ich zu professioneller Unterstützung.
Wie gehen Sie vor, wenn sich Eltern mit ihren Kindern bei Ihnen melden?
Während einem Erstgespräch erörtern wir, entweder in Einzelgesprächen oder gemeinsam mit den Eltern und dem Kind, welche Probleme bestehen. Wie ergeht es dem Kind beim Lernen? Wo brauchen die Eltern Unterstützung? Meistens kommt das Kind einmal pro Woche zu uns ins Lerncoaching und bringt seine Hausaufgaben oder Prüfungsvorbereitungen mit. Dabei vermitteln wir verschiedene Techniken und Tricks, die dem Kind das Lernen und das richtige Herangehen und das Lösen von Schulaufgaben erleichtern.
Wann zeigen sich positive Auswirkungen des Lerncoachings?
Das kommt ganz darauf an. Je nach Problem und Fortschritt sieht man nach etwa zehn Terminen einen Erfolg.
Hatten Sie auch schon hoffnungslose Fälle, bei denen Sie kapitulieren mussten?
Das ist mir während meiner 18-jährigen Tätigkeit als Lerncoach natürlich auch schon passiert. Ich erinnere mich an ein Kind, das Machtkämpfe mit mir austrug und sich dem Lernen total verweigerte. Ein positiver Beziehungsaufbau gestaltete sich sehr schwierig. Das Kind wusste, dass es für jede Verweigerung Computergame-Entzug gab.
Dem Buben schien das aber völlig egal zu sein, denn später stellte sich heraus: Das Kind war auch ein grosser Comic-Fan und beschäftigte sich stattdessen damit. Dabei ist zu erwähnen, dass diese Token-Systeme nicht viel bringen, wenn sich das Kind nicht angenommen und ernst genommen fühlt. Eine gute Beziehung zwischen Lerncoach und Kind ist das A und O für konstruktives Lernen.
Kann selbst aus einem sehr schlechten Schüler in der Oberschule ein Musterschüler werden?
Natürlich! Oft ist vielen Jugendlichen gar nicht klar, warum sie sich für die Schule engagieren müssen. Sie sehen schlicht den Sinn dahinter nicht. Gute Noten haben viele erst dann, wenn sie in der Lehre einen praktischen Bezug zu der Theorie haben, die sie in der Berufsschule vermittelt bekommen. Lernen lohnt sich immer: Ein von Dyskalkulie Betroffener wird vielleicht nicht zum Mathematikprofessor, das heisst aber nicht, dass er nicht einen höheren Bildungsabschluss mit guten Noten erlangen kann.
Wird von den Schülerinnen und Schülern heute mehr verlangt als noch vor zwanzig, dreissig Jahren?
Definitiv! Deutlich mehr Leistung wird heute in der gymnasialen Oberstufe erwartet: Gymnasiasten müssen ganze Wörterbücher für Fremdsprachen von A bis Z auswendig lernen. Hinzu kommt, dass es heute weniger Frontalunterricht als früher gibt und die Kinder und Jugendlichen dazu aufgefordert sind, sich in Lernteams zu organisieren.
Sie arbeiten mit Wochenplänen und müssen in der Lage sein, den Stoff selbstständig für die einzelnen Unterrichtstage einzuteilen. Natürlich ist es ein Vorteil, dass die Kinder heute früh an das strukturierte, selbstorganisierte Arbeiten herangeführt werden. Doch viele haben Mühe damit, allen voran Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen. Da sie sich schneller ablenken lassen, wird die Teamarbeit zur grossen Herausforderung.
Abschliessend bin ich auf Ihren ultimativen Lerntipp gespannt …
Nach etwa 15 bis 30 Minuten Lernen eine Pause machen und immer dann aufhören, wenn es gerade besonders gut funktioniert. Somit fällt der Einstieg in die nächste Lernetappe umso leichter und man bleibt motiviert. Unser Gehirn liebt Wiederholungen und eine gute Stimmung beim Lernen. Dafür können Rituale genutzt werden, wie eine Lernkerze anzuzünden, Lerntee zu trinken oder nach jedem Lernabschnitt kurz auf dem Trampolin zu hüpfen.