Rock 'n' Roll und Körperkult Karlheinz Weinberger – der Schweizer Fotograf für das Ungewöhnliche

Bruno Bötschi

31.10.2018

Jahrzehntelang arbeitete Karlheinz Weinberger in ein und derselben Zürcher Fabrik, an den Wochenenden fotografierte er – am liebsten junge Männer. Bei der Arbeit. Beim Sport. Beim Sex. Jetzt wird erstmals das Gesamtwerk des lange verkannten Fotografens ausgestellt.

Der Mann, der auf seine Visitenkarten «Fotograf für das Ungewöhnliche» drucken liess, beschäftigte sich gerne mit Menschen am Rande der Gesellschaft. Karlheinz Weinberger war zwischen 1943 bis 1967 der Hoffotograf des Schwulenmagazins «Der Kreis».

1958 entdeckte er in Zürich ein neues Phänomen: die Halbstarken. Junge Männer und einige Frauen in engen Jeans, Lederjacken und dicken Ketten. Er dokumentierte ihre Begeisterung für James Dean, Elvis und Rock 'n' Roll. Born to be wild.

Weinberger war zudem ein grossartiger Sportfotograf. Beachtung erhielt der zeitlebens als Amateur arbeitende Künstler jedoch erst mit einer grossen Ausstellung und einem ersten Buch im Jahr 2000, sechs Jahre vor seinem Tod.

Die Photobastei Zürich zeigt nun erstmals sein Gesamtwerk – «Bluewin» sprach mit Patrik Schedler, Weinbergers Nachlassverwalter und Kurator der Ausstellung.

Herr Schedler, haben Sie ein Lieblingsbild von Karlheinz Weinberger?

Ein Ringerbild in Schwarzweiss. Auf der Fotografie sind zwei kämpfende Männer zu sehen, einer fliegt gerade durch die Luft. Eine wunderbare Komposition mit viel erotischer Ausstrahlung. Das Bild hängt in meinem Wohnzimmer.

Wann trafen Sie Weinberger zum ersten Mal?

Das war im Mai 2000 an der Vernissage zur Ausstellung über die Homosexuellen-Bewegung «Der Kreis» im Landesmuseum Zürich. Damals wusste ich noch nicht, was auf mich zukommen wird. Das realisierte ich erst Monate später, als wir uns auf einer Beerdigung zum zweiten Mal begegneten.

Zwei Ringer – das Lieblingsbild von Nachlassverwalter Patrik Schedler.
Zwei Ringer – das Lieblingsbild von Nachlassverwalter Patrik Schedler.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich

Was für ein Mensch war Weinberger?

Er war eigenwillig, witzig und etwas skeptisch. Als ich ihn kennenlernte, dachte ich anfangs, er sei introvertiert. Aber das war er überhaupt nicht. Karlheinz Weinberger konnte wunderbar Geschichten erzählen. Und er war sehr grosszügig, hat sich immer wieder für Menschen stark gemacht.

Fotograf Weinberger war Autodidakt.

Stimmt. Nach dem Literaturgymnasium jobbte er da und dort, arbeitete unter anderem als Teppich- und Möbelhändler. Später war er längere Zeit arbeitslos, bis er 1959 seine Lebensstelle als Lagerist bei Siemens fand.

Wann entdeckte er die Fotografie?

Bereits im Teenageralter. Mit 15 lernte er während dem Sechseläuten einen jungen Mann kennen, den er später mit nach Hause nahm. Aus der Begegnung entstand eine Affäre. Irgendwann bekam Albert, so hiess der Typ, kalte Füsse und beendete die Beziehung. Zum Abschied schenkte er Weinberger eine Fotokamera. Dessen Eltern wussten übrigens von der Liebe ihres Sohnes. Weinbergers Mutter muss eine ganz tolle Frau gewesen sein, das hat er immer wieder betont. Der Vater war ein verhinderter Intellektueller. Er musste Schlosser lernen und hat später als einfacher Arbeiter im Militär Karriere gemacht.

Bekannt wurde Karlheinz Weinberger durch seine Porträts der «Halbstarken», die er ab 1958 fotografierte. Wo fand er diese Männer?

Entdeckte er einen Mann auf der Strasse, ging er zu ihm hin und sagte: ‹Du siehst gut aus, aber in zehn Jahren siehst du nicht mehr so gut aus. Wir sollten jetzt noch ein Foto von dir machen. Komm mit.› Die meisten gingen mit.

Warum?

Weinberger hatte Charisma.

Lagerist und Fotograf Karlheinz Weinberger am Tag seiner Pensionierung, 1986.
Lagerist und Fotograf Karlheinz Weinberger am Tag seiner Pensionierung, 1986.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich

Mit seinen homoerotischen Männerfotos war er seiner Zeit weit voraus.

Karlheinz Weinberger wusste sehr wohl, was er tat. Aber er wusste auch, dass es noch Zeit braucht, bis seine Arbeit als Fotograf anerkannt werden würde. Vielleicht krebste er deshalb auch immer wieder zurück, wenn er seine Bilder in der Öffentlichkeit hätte präsentieren können. Ich glaube, er wollte sich nicht in eine Ecke drängen lassen. Wäre in den 1960er Jahren ein Bildband von ihm erschienen, wäre er der Fotograf gewesen, der halbnackte Männer fotografiert. Weinberger war aber auch ein grossartiger Sportfotograf. Ab den frühen 1950er Jahren war er oft Gast beim Athletik-Sportverband Adler in Zürich. Dort trainierten vornehmlich Migranten. Hin und wieder schleppte er auch einen Typen mit nach Hause.

Vom bekannten Schweizer Modefotografen Hans Feurer weiss man, dass er sich ursprünglich für den Beruf entschieden hat, weil er schöne Frauen kennen lernen wollte. Wie war das bei Weinberger?

Es gibt ein Samichlaus-Gedicht vom Gründer der Homosexuellen-Bewegung «Der Kreis». Darin nimmt er Bezug darauf, dass man den Jim – das war Weinbergers Pseudonym im «Kreis» –, immer dort antraf, wo gutaussehende Männer anzutreffen waren.

Feurer sagt zudem, er sei ein Don Juan gewesen, habe auch schon mal mit seinen Models geschlafen. Weinberger auch?

Ich denke schon. Als er jung war, war er sexuell sehr aktiv. Später, so mit 40, 45, wurde das deutlich weniger. Zu der Zeit, als ich ihn kennenlernte, hat er zwar noch Typen von der Strasse geholt und fotografiert – mehr lief aber nicht mehr.

Seit einem Jahr gibt es die Sexismusdebatte #Metoo. Es ist noch nicht so lange her, dass mehrere Models und frühere Assistenten Belästigungsvorwürfe gegen die Starfotografen Mario Testino und Bruce Weber erhoben haben. Müsste sich Karlheinz Weinberger, wenn er noch leben würde, heute auch vor solchen Vorwürfen fürchten?

Ich glaube nicht. In seinem Nachlass habe ich einen Brief gefunden, den ihm vier religiöse Fanatiker geschickt haben. Sie schrieben ihm, sie hätten ihn beobachtet und er müsse sich unbedingt eines Besseren besinnen, sonst käme er in die Hölle. Und dann gab es noch die Geschichte mit einer Frau, die sich bei ihm beschwert hat, weil er versucht haben soll, ihren Freund schwul zu machen.

Mit seinen homoerotischen Männerfotos war Karlheinz Weinberger seiner Zeit weit voraus.
Mit seinen homoerotischen Männerfotos war Karlheinz Weinberger seiner Zeit weit voraus.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich

Weinbergers Bilder erschienen in der Zeitschrift «Der Kreis». Heute posieren schöne Männer in ähnlichen Posen in der Werbung. Vor 50 Jahren waren solche Bilder sehr gewagt. Homosexuelle wurden damals verfolgt und bespitzelt. Hatte Weinberger nie Probleme mit der Polizei?

Oh doch! Ein Typ, den er mit nach Hause genommen hatte, klaute ihm eine Uhr. Karlheinz Weinberger zeigte ihn an, und der Täter wurde gefasst. Was Weinberger jedoch nicht wusste, war, dass der Mann ihm auch noch ein Couvert geklaut hatte mit einigen Ausgaben des US-amerikanischen Schwulenmagazins «Physic Picitorial» darin. Wenig später flatterte ihm eine Vorladung ins Haus und die Polizei beschlagnahmte alle seine Bilder. Danach begann ein übler Spiessrutenlauf: Er musste Abend für Abend auf den Polizeiposten gehen. Er sollte seine Modelle identifizieren. Er stellte sich jedoch auf stur und sagte nichts. Irgendwann verfügte der Bezirksrichter, dass das ganze Bildmaterial vernichtet werden müsse. In der Folge wurden zwei Polizisten abgestellt, die mit ihm in die Kehrrichtverbrennungsanlage fahren sollte. Und dann geschah ein kleines Wunder: Die beiden Beamten liessen Karlheinz Weinberger zwei Stunden allein, so dass er wenigstens all jene Bilder, die ihm wichtig waren, in letzter Sekunde wegschaffen konnte.

Sie sortieren, sichten, erschliessen seit dem Jahr 2000 das Werk – und später den Nachlass von Weinberger. Warum er hat er Sie zum Nachlassverwalter bestimmt?

Nachdem ich ihn im Jahr 2000 kennengelernt hatte, plante ich mit ihm wenig später eine Ausstellung in meiner damaligen Galerie in Zürich. Lange war er sehr zurückhaltend; erst als ich sagte, er könne zeigen, was er wolle, hat er richtig angebissen. Diese Retrospektive hat uns einander nähergebracht.

Wie ging es weiter?

Der eigentliche Wendepunkt war sein erster Schlaganfall im Jahr 2003. An einem Samstag wollten wir zusammen eine Vernissage besuchen. Als ich bei ihm daheim läutete, machte er die Türe nicht auf. Ich verschaffte mir Zugang zur Wohnung, wo er am Boden lag. Dieser Vorfall veränderte unser Verhältnis total, von da an war ich seine wichtigste Bezugsperson.

Von wie vielen Bilder reden wir eigentlich?

Meine Schätzung beläuft sich auf 20'000 Schwarzweiss-Negative und 50'000 Dias.

Wie sortiert und sichtet man eine derartige Menge Bilder?

Das weiss ich eigentlich bis heute auch nicht so genau. Man muss alles durchsehen und nochmals durchsehen. Und nochmals und nochmals. Eine erste Ordnung grob nach Themen haben wir zum Glück noch mit Karlheinz Weinberger zusammen erstellt.

Wirklich wahr, dass er viele seiner Bilder einfach unter seinem Sofa lagert?

Das stimmt. Bei einem meiner vielen Besuche bei ihm zu Hause sagte er einmal: ‹Machen Sie mal die Schublade unter dem Sofa auf.› Dort entdeckte ich Hunderte farbige Dias, die total verstaubt waren.

Patrik Schedler über Karlheinz Weinberger: «Von aussen gesehen führte er kein spektakuläres Leben. Aber wenn man seine Bilder ansieht, dann spürt man, dass dieser Mann wahnsinnig viel erlebt hat – das versuche ich zu vermitteln.»
Patrik Schedler über Karlheinz Weinberger: «Von aussen gesehen führte er kein spektakuläres Leben. Aber wenn man seine Bilder ansieht, dann spürt man, dass dieser Mann wahnsinnig viel erlebt hat – das versuche ich zu vermitteln.»
Bild: zVg

Die Photobastei Zürich zeigt erstmals Weinbergers Gesamtwerk. Sie sind Kurator der Ausstellung. Was dürfen die Besucherinnen und Besucher erwarten?

Ich will die ganze Breite seines Werkes zeigen – also auch die Sport-Bilder, die bisher noch nie öffentlich zu sehen waren. Und ich will auch die Geschichte der Stadt Zürich seit den 1950er Jahren erzählen, deren Bräuche, deren Jugendbewegungen und deren schwulen Szene. Ich wurde allerdings schon ein bisschen zurückgepfiffen.

Weshalb?

Ich darf keine erigierten Penisse zeigen – oder nur hinter einem Vorhang. Aber damit kann ich gut leben.

Sie werden unter dem  Titel «Karlheinz Weinberger oder die Ballade von Jim» zudem einen Essay über das Leben des erst im hohen Alter bekannt gewordenen Künstlers publizieren. Was steht im Buch, was man in der Ausstellung nicht sehen kann?

Ich erzähle die Biografie von Karlheinz Weinberger. Von aussen gesehen führte er kein spektakuläres Leben. Aber wenn man seine Bilder ansieht, dann spürt man, dass dieser Mann wahnsinnig viel erlebt hat – das versuche ich zu vermitteln.

Wenn Sie heute an Karlheinz Weinberger denken, was vermissen Sie am meisten?

Seinen Schalk. Mit ihm gab es immer viel zu lachen. Er war ironisch und sarkastisch, aber nie auf böse Art. Das schätzte ich sehr.

Hat er Sie eigentlich auch einmal fotografiert?

Als ich ihn einmal besuchte mit meinem damaligen Freund, da sagte er plötzlich: ‹So, jetzt mache ich von Ihnen eine Foti. Punkt.›

Sie waren per Sie mit ihm?

Ja, immer.

Eine Ausstellung, zwei Bücher

Die Photobastei Zürich zeigt vom 1. November bis 23. Dezember 2018 Karlheinz Weinberger, wie man ihn noch nie gesehen hat: als Menschen, als Zürcher und als Liebhaber der männlichen Erotik. Die Ausstellung geht dabei weit über die Porträts der Halbstarken hinaus, mit welchen der Fotograf berühmt wurde.

Zur Ausstellung erscheinen zudem: Karlheinz Weinberger, Sports, Vol. #2, Sturm und Drang Verlag, Zürich

Patrik Schedler, Karlheinz Weinberger oder die Ballade von Jim – ein biographischer Essay, Limmat Verlag Zürich, erscheint am 25. November 2018

Weitere Infos und Bilder: karlheinzweinberger.ch

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