Kolumne am Mittag Als Kylie Minogue den Auftritt ihres Lebens hinlegte

Von Hanspeter «Düsi» Künzler

4.11.2020

Ausgerechnet jetzt, wo die Clubs verwaist sind und die Discokugeln im Dunkeln hängen, bittet Kylie Minogue zum Tanz. Good News: Der Feelgood-Faktor ihres 15. Albums funktioniert auch daheim in der guten Stube.

Am 20. Juni 2019 wurden wir Zeugen einer der bemerkenswertesten Metamorphosen in der Geschichte der Popmusik. An dem Sonntagnachmittag trabte die winzige Kylie Minogue auf die gewaltige Pyramidenbühne von Glastonbury – dem coolsten Festival Europas! – und legte den Auftritt ihres Lebens hin. Selbst abgebrühte Kritiker waren hingerissen.

«Pures Gold», «unvergleichlich» und «phänomenal» urteilte zum Beispiel das seriöse Nachrichtenportal «The Guardian».

3,9 Millionen Zuschauer verfolgten das Ereignis live am Fernsehen – mehr als je zuvor bei einer Glastonbury-Übertragung. Mehr zum Beispiel als Adele, die Rolling Stones und Ed Sheeran. Kylie hatte es geschafft.

Das goldene Los

Als  durchschnittlich talentierte, aber charmante Soap-Opera-Darstellerin war die Australierin dereinst in die Fänge von Stock, Aitken und Waterman geraten, einer Studio-Crew in London, die sich auf die Fliessband-Produktion von kalorienfreien Pop-Hits spezialisiert hatte. Mit Kylie zogen sie das goldene Los.

Noch bevor Minogue den 21. Geburtstag feierte, hatte man ihr fünf Welthits auf den Leib geschrieben. Der zahnzerstörende Zuckergehalt von Musik und Image war nicht dazu angetan, ihr künstlerischen Respekt einzutragen. Seit Glastonbury ist der Legendenstatus in Marmor gemeisselt.

Glastonbury am 20. Juni 2019: Die australische Popsängerin Kylie Minogue legt den Auftritt ihres Lebens hin.
Glastonbury am 20. Juni 2019: Die australische Popsängerin Kylie Minogue legt den Auftritt ihres Lebens hin.
Bild: Getty Images

Wie hat sich das bescheidene Mädchen aus Melbourne die heutige Liebe der Popwelt erkämpft? Erstens mit ihrer Bescheidenheit. Ich rede aus Erfahrung: Ich interviewte sie in einer Zeit, wo jeder ihrer Seufzer auf den Titelseiten der Boulevardpresse landete. Sie war witzig, umgänglich und völlig unzickig. So was bleibt in Erinnerung.

Zweitens die nüchterne Art, wie sie mit den Rückschlägen in ihrem Leben umging. Liebesenttäuschungen zum Beispiel, oder die Brustkrebs-Diagnose vor fünfzehn Jahren. Auch konnte sie über sich selber lachen. Die Schwulenklubs liebten ihren selbstironischen Umgang mit «Camp». Andererseits sang sie im Duett mit dem galgenhumorigen Rockbarden Nick Cave die Mörderballade «Where the Wild Roses Grow».

Glorios sorglose Dance-Hits

Der Erfolg von Kylies letztem Album «Golden» zeigte, dass die Künstlerin heute über allen Stilschubladen steht. «Golden» war weitgehend in Nashville entstanden und zeigte eine gänzlich neue Facette von ihrer Muse. Das Album war trotzdem ein Bestseller.

Während der damit verbundenen Tournee merkte Kylie indes, dass ihr selber wie auch dem Publikum die glorios sorglosen Dance-Hits «Can’t Get You Out of My Head» und «Spinning Around» weitaus am meisten Spass bereiteten. So fiel der Entschluss, auf den Tanzboden zurückzukehren. Die Arbeit begann im vergangenen Herbst und zog sich tief in den Lockdown hinein.

Um den Prozess nicht abbrechen zu müssen, erlernte Minogue flugs den Umgang mit allerhand Recording-Software und vollendete das Werk via Internet. «Disco» serviert eine gebündelte Ladung spassbeseelte Tanzmusik.



Minogue figuriert bei allen Titeln als Co-Autorin, der Sound kombiniert die jubelnden Geigen und seidenen Gitarren von Chic mit dem klassischen, perkussiven Shuffle der Disco-Originale, bringt aber einen muskulösen Druck ins Spiel, der die Nostalgie-Gefühle geschickt mit dem heutigen Zeitgeist vereint.

Nach einem verwirrenden Start, wo die Stimme etwas gar elektronisch klingt, findet das Album mit dem Disco-Samba «Monday Blues» seinen Weg und liefert mit der an Hot Chocolate gemahnenden, melancholischen Euphorie von «Say Something» einen waschechten Evergreen.

Disco kann grässlich sein. «Disco» ist klasse.

Zur Autor: Der Zürcher Journalist Hanspeter «Düsi» Kuenzler lebt seit bald 40 Jahren in London. Er ist Musik-, Kunst- und Fussball-Spezialist und schreibt für verschiedene Schweizer Publikationen wie die NZZ. Regelmässig ist er zudem Gast in der SRF3-Sendung «Sounds».


Regelmässig gibt es werktags um 11:30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – es dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.

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