Dick und diskriminiert, Teil 1 «Ständig bekomme ich verächtliche Sprüche zu hören»

Von Sulamith Ehrensperger

11.3.2021

Vorurteile und Diskriminierung begleiten übergewichtige Menschen meist ein ganzes Leben lang. (Symbolbild)
Vorurteile und Diskriminierung begleiten übergewichtige Menschen meist ein ganzes Leben lang. (Symbolbild)
Bild: Getty Images/Westend61

Fast 200 Kilo schwer und immer wieder Adressatin von fiesen Sprüchen: Hier erzählt eine Therapeutin, wie sie wegen ihres Übergewichts gemobbt wird. Und warum sie sich kaum traut, in der Öffentlichkeit zu essen.

Von Sulamith Ehrensperger

11.3.2021

«Ich heisse Astrid, bin Shiatsu-Therapeutin und zurzeit 190 Kilo schwer. Übergewichtig bin ich schon, seit ich auf der Welt bin. Meine Mutter sagte jeweils zu mir: ‹Für dich hatten sie im Spital keinen Strampler, der passte.›

Bei meiner Geburt wog ich 5500 Gramm. Als Kind war ich dann ständig auf Diät. Ich bin damit aufgewachsen, dass ich immerzu hörte, ich solle weniger essen, endlich abnehmen oder mich wegen meiner Figur besser kleiden als andere. Alles war immer so negativ belastet. Heute bin ich Expertin in Sachen Diät. Leider ist es durch all die Menschen, die mir helfen wollten, nicht besser geworden. Mein Maximalgewicht war 200 Kilo.

Essen in der Öffentlichkeit ist für mich schwierig. Wenn ich in ein Restaurant gehe, muss ich mich erst informieren, ob ich auf den Stuhl passe. Fast überall sind diese zu schmal oder zu eng, vor allem wegen den Armlehnen, ich muss dann den Service um einen extra Stuhl bitten.

Auch jetzt, wo die Lokale geschlossen sind, traue ich mich kaum, in der Öffentlichkeit zu essen. Ständig bekomme ich unangenehme Blicke zugeworfen oder verächtliche Sprüche zu hören – wie ‹Kein Wunder, siehst du so aus›.

Grenzüberschreitungen, die nur Dicke erleben

Schräge Blicke erlebe ich auch beim Einkaufen, beispielsweise wenn ich mal was Ungesundes in den Korb lege. Manche reagieren, als ob sie noch nie eine übergewichtige Person gesehen hätten – etwa so wie ein Chihuahua, der zum ersten Mal einem Bernhardiner begegnet.

Einmal hat ein Mädchen ihre Mutter lautstark gefragt: ‹Mami, warum ist diese Frau so dick?› Die Mutter war peinlich berührt, sie sagte kein Wort. Weil ich so gern esse, antwortete ich. In einem anderen Fall sagte eine Mutter: ‹Ich weiss es auch nicht, frag sie doch mal.› Das Kind traute sich aber nicht.

Die Leute haben immer das Gefühl, sie müssen noch etwas loswerden. So auch die Frau, die mir beim Einkaufen nachlief und auf mich einredete: ‹Sie haben total Probleme mit Ihrem Gewicht. Ich habe da ein Produkt, darf ich Ihnen das mal zeigen. Sie fühlen sich garantiert gleich besser.› Im Gegenteil, ich fühlte mich total in der falschen Show. Eine Grenzüberschreitung, die so nur Übergewichtige erleben.

Aus Scham nicht mehr zum Sport

Auch beim Sport bin ich immer wieder mit Stigmata konfrontiert: Wir seien faul, hätten keinen Willen und müssten uns nur einen kleinen Ruck geben. Es wird einem ja eingetrichtert, wer abnehmen will, müsse sich zum Sport bewegen. Aber wo du auch hinkommst, die Leute finden das nicht läss.

Sei es im Fitnesscenter: ‹Fette sollen ja Sport machen, aber müssen wir dabei zuschauen?› oder im Schwimmbad: ‹Pass auf, sonst hat es bald kein Wasser mehr im Becken.›

Wenn du solche Kommentare schon auf dem Weg von der Kabine zum Bassin zu hören bekommst, willst du da nicht mehr hin. Eigentlich willst du ja etwas Positives für dich tun, hast aber negative Gefühle dabei, also lässt du es nächstes Mal bleiben. Viele Übergewichtige gehen aus Scham nicht ins Fitnesscenter und in Schwimmbäder.

Viele Übergewichtige kostet es Überwindung, ins Fitnessstudio zu gehen. Sie befürchten abwertende Blicke und manchmal sogar offene Beleidigungen.
Viele Übergewichtige kostet es Überwindung, ins Fitnessstudio zu gehen. Sie befürchten abwertende Blicke und manchmal sogar offene Beleidigungen.
Bild: Getty Images

Wegen meines Gewichts wurde mir in meinem vorherigen Job gekündigt. Durch die Blume sagte man mir: Entweder du nimmst ab oder du gehst. Ich stand damals unter sehr hohem Leistungs- und Lebensdruck. Ich wollte alles richtig machen. Nicht versagen. Mir wurde ja von klein auf immer gepredigt: ‹Mit deinem Gewicht musst du doppelt so viel wie andere leisten, wenn du was erreichen willst.› Ich bin zusammengebrochen, fühlte mich ausgebrannt. Zwei Monate lang musste ich in eine Klinik.

Übergewichtige sollen hungern – ein Irrtum

Seither habe ich einen neuen Weg eingeschlagen. Ich habe mich selbstständig gemacht und im Alltag versuche ich anders mit den Reaktionen der Leute umzugehen. Früher habe ich sie oft ignoriert, vieles geschluckt. Manchmal ging ich nach Hause und habe gegessen.

Heute versuche ich, nicht in negativen Mustern stecken zu bleiben, sondern herauszufinden, weshalb ich auf eine Bemerkung reagiere. Aus eingefahrenen Mustern rauszukommen, ist nicht einfach. Ich trainiere tagtäglich, dass mir dies besser gelingt. Wenn du wirklich abnehmen möchtest, musst du dich mit dir, deinen Gewohnheiten, deinem Unterbewusstsein beschäftigen.



Eigentlich braucht man als übergewichtige Person, die abnehmen will, ein Spitzenteam um sich herum – fast so wie ein Hochleistungssportler. Ich war schon bei vielen Ernährungsberatern, habe mich in unzähligen Diäten versucht und immer hatte ich Hunger. Am Anfang habe ich jeweils durchgehalten, aber irgendwann kapitulierst du, du stoppst bei der Bäckerei und isst, was dein Herz begehrt. Bis vor Kurzem habe ich rund 900 Kalorien pro Tag gegessen, manchmal den ganzen Tag nichts, erst abends um 22 Uhr, danach bin ich hundemüde ins Bett gefallen.

Es ist der grösste Fehler, dass man Übergewichtigen immerzu sagt, sie müssen hungern. Es war vor etwas mehr als vier Monaten, als ich zum ersten Mal im Leben von einem Ernährungsexperten hörte, ich solle mehr essen! Ich weiss nun, dass mein Grundumsatz rund 3000 Kilokalorien zählt. Heute esse ich strukturierter und an einem Tag so viel, wie ich zuvor manchmal in einer Woche gegessen habe. Ich fühle mich vitaler – und habe bisher zehn Kilo abgenommen.

«Auf die Massage muss ich verzichten»

In der Schweiz begegnen einem kaum übergewichtige Menschen, weder im Restaurant noch beim Einkaufen. Kein Wunder, denn wenn du als Übergewichtige bei einer Modekette einkaufen willst, wirst du schräg angeschaut und es heisst, ‹Übergrössen führen wir nicht›.

Was aber, wenn ich nur ein Geschenk für mein Patenkind kaufen möchte? In vielen Lebensbereichen muss ich mich anders organisieren: Im Wellnesshotel passt mir kein Bademantel, den muss ich selber mitbringen und meistens auf eine Massage verzichten, denn viele Therapeuten behandeln keine übergewichtigen Menschen.

Ich glaube, viele Übergewichtige zeigen sich im öffentlichen Leben nicht, weil sie sich vor den Reaktionen und den Blicken anderer scheuen. Mein Ziel ist, dass ich mich irgendwann wieder unbeschwert in meinem Alltag bewegen kann. Ich möchte wieder auf einem Pferd reiten können, so wie ich das als Kind immer getan habe.»


Wir widmen der Thematik weitere Berichterstattung. Lesen Sie auch das Interview mit einem Ernährungsdiagnostiker, das am Freitag 12. März bei «blue News» erschienen ist.