Ansichten aus dem Intimbereich Marianne Weiss: «Das Patriarchat war gedacht, um Frauen klein zu machen»

Von Caroline Fink

5.2.2021

«Das Bild, dass wir Frauen nur geliebt werden, wenn wir gut, brav und anständig sind, sitzt noch tief in unseren Köpfen»: Marianne Weiss.
«Das Bild, dass wir Frauen nur geliebt werden, wenn wir gut, brav und anständig sind, sitzt noch tief in unseren Köpfen»: Marianne Weiss.
Bild: Caroline Fink

Marianne Weiss machte Karriere damit, Frauen und Männer im Intimbereich von Haaren zu befreien. Heute tritt sie für die Befreiung von überholten Rollenbildern und ausgedienten Konventionen ein. Ein Gespräch über Freiheit, Sex und das Ende des Patriarchats.

Ich stehe in einer Art exotischer Hexenküche: Rosa Wände und Jasminduft umgeben mich, zwischen Kochplatten und Divan rattert ein Tumbler, pinkfarbene Quasten baumeln von der Decke und Apothekerflaschen zieren ein Regal. Doch ich bin nicht in Alices Wunderland, sondern im Zürcher Niederdorf.

Genauer: In Marianne Weiss' Enthaarungsstudio.

Nun könnte man meinen, das Geschäft liege absichtlich in einem verborgenen Winkel. Denn Marianne Weiss' Kerngeschäft ist seit Jahren dasselbe: Mit selbst gekochter Zuckerpaste enthaart sie – nach orientalischem Rezept – Frauen und Männer in deren Intimbereich. Wohlgemerkt nicht nur in der Bikinizone, sondern bis in die innersten Hautfältchen.

Doch die dezente Lage des Studios ist reiner Zufall, denn Marianne Weiss versteckt sich nicht. Im Gegenteil. Sie ist eine Frau, die sagt, was sie denkt, und macht, was sie will. Eine, die Romy Schneiders Eleganz mit dem Punk der Sex Pistols vermischt. Sich für spirituelle Fragen interessiert, geblümte Roben trägt und Wörter wie «verfickte Scheisse» sagt.

Als ich mit ihr auf dem Divan sitze und Tee aus marokkanischen Gläsern trinke, frage ich sie, als was sie selbst sich sieht. Sie überlegt lange. Dann sagt sie: ‹Als Freiheitskämpferin!› So beginnt unser Gespräch über Frauen, Männer und Freiheit. Über das Ende des Patriarchats und die Tatsache, warum hemmungsloser Sex wichtig ist.

Frau Weiss, worum geht es bei Sex?

Zur Person: Marianne Weiss

Marianne Weiss, geboren 1978, gründete 2007 ihr Kleinstunternehmen «Oriental Sugaring». In diesem bietet sie Behandlungen, Workshops und handgemachte Produkte zur Haarentfernung mit Zuckerpaste an. Vor einigen Jahren schuf sie zudem das Label «Stay Wild, Go Sweet», in dessen Rahmen sie Podcasts produziert. In diesen redet sie, frisch und frech, mit Frauen und Männern über Freiheit, Sex und sonst so allerhand. Aktuell läuft eine Serie, in der Menschen davon erzählen, wie sie sich vom Patriarchat befreiten. Marianne Weiss hat eine erwachsene Tochter und lebt in der Nähe von Zürich.

Um eine Urkraft. Und um eine Verbindung zwischen Menschen. Sex ist nur dann gut, wenn man sich dabei als Menschen begegnet.

Wann haben Sie erstmals gemerkt, dass Sie Sex mögen?

Mit meinem ersten festen Freund. Ich hatte zwar vorher bereits einen Schatz, der Sex ausprobieren wollte. Aber ich verstand nicht, was cool daran sein sollte, wenn ein Mann seinen Schwanz in eine Pussy steckt. Ich wollte nur küssen. Doch mit meinem ersten Freund änderte sich das: Plötzlich wollte auch ich unbedingt Sex mit ihm – meine Libido, dieses Animalische in uns, war erwacht.

Fehlte fortan etwas, wenn Sie keinen Sex hatten?

(Lacht) Wenn ich Sex wollte, holte ich ihn mir. Als ich wieder Single und in Zürich war, ging ich gezielt auf Jagd.

Etwas, das man zu dieser Zeit – vor gut 20 Jahren – noch eher Männern attestierte.

Das stimmt. Das Bild, dass wir Frauen nur geliebt werden, wenn wir gut, brav und anständig sind, sitzt noch tief in unseren Köpfen.

Sind Sie bei anderen Frauen mit diesem aktiven Leben Ihrer Libido angeeckt?

Ich habe mich damals kaum mit anderen Frauen darüber ausgetauscht. Für mich war es normal, meine Sexualität zu leben. Woran ich mich erinnere: Meine WG-Kollegin fand es unmöglich, wenn der WG-Kollege und ich in der Küche derbe Sprüche über Gurken machten.

Vor gut 15 Jahren machten Sie sich dann einen Namen mit Ihrem damals neu gegründeten Enthaarungsstudio: In diesem enthaarten Sie Frauen und Männer an intimsten Stellen. Wie kamen Sie überhaupt auf diese Idee?

Ganz einfach: Ich arbeitete im Hamam in Zürich und machte eine Ausbildung in orientalischer Haarentfernung mit Zuckerpaste. Das war der Anfang.

«Ich verstand nicht, was cool daran sein sollte, wenn ein Mann seinen Schwanz in eine Pussy steckt.»: Marianne Weiss.
«Ich verstand nicht, was cool daran sein sollte, wenn ein Mann seinen Schwanz in eine Pussy steckt.»: Marianne Weiss.
Bild: Caroline Fink

Und warum nicht nur Beine und Arme?

Ich merkte, dass Nacktheit für mich etwas völlig Natürliches ist. So kam ich auf diese Idee und pries das Angebot gross auf meiner ersten Website an.

Im Gegensatz zu vielen anderen Kosmetikerinnen.

Ja. Manche Kolleginnen sagten mir, sie fänden dies zu persönlich oder eklig. Was ich nicht nachvollziehen kann: Eine Pussy ist etwas Schönes, ein Schwanz auch. Andere wiederum fürchteten sich vor sexualisierter Gewalt.

Hatten Sie selbst nie Angst davor, dass ein Kunde es falsch verstehen könnte, wenn er sich vor Ihnen nackt ausziehen darf?

Nein. Sollte vorab ein Missverständnis vorliegen, würde ich dieses sehr schnell aus dem Weg räumen. Hier bin ich der Chef (lacht).

Gibt es umgekehrt Kundinnen und Kunden, die Hemmungen haben?

Ja, viele. Es braucht Mut, zu einer Unbekannten zu gehen, sich auszuziehen und etwas machen zu lassen, das man noch nie gemacht hat. Das mir entgegengebrachte Vertrauen schätze ich daher auch sehr.

Reden Sie mit Kundschaft während des Enthaarens über Sex und Sexualität?

Sehr oft sogar.



Und wo steht – aus Ihrer Expertinnensicht – in der Schweiz das Sex-Barometer mit Blick auf die Frauen? Oft hört man ja, die weibliche Sexualität sei bis heute nicht vollends befreit, insbesondere wenn es um Libido oder Selbstbefriedigung geht. Oder darum, selbst Lust zu erleben, anstatt Lust zu vermitteln.

Ich sehe innerhalb meiner Kundschaft grosse Unterschiede. Einerseits gibt es Frauen, denen der Mut für vieles fehlt. Die sich zurücknehmen und bestimmten gesellschaftlichen Bildern beugen. Wohlgemerkt nicht nur in der Sexualität: Sexuell unfreie Frauen sind oft auch jene, die mir erzählen, wie sie im Alltag auf den Mund sitzen und eigene Wünsche nicht durchsetzen. Weil es sich nicht schickt und ‹man ja nicht so sein kann›. Umgekehrt erlebe ich sehr viele befreite Frauen, sowohl im sexuellen wie auch im alltäglichen Leben. Aber ganz klar: Es gibt noch viel Aufholbedarf.

Und daran arbeiten Sie mit Ihren Podcasts und Audio-Episoden. Stimmt's?

Genau.

Darin geht es um anderes als ums Haare entfernen.

In der Tat.

Worum genau geht es?

(Überlegt) Um Freiheit und Befreiung.

«Es braucht Mut, zu einer Unbekannten zu gehen, sich auszuziehen und etwas machen zu lassen, das man noch nie gemacht hat.»: Marianne Weiss.
«Es braucht Mut, zu einer Unbekannten zu gehen, sich auszuziehen und etwas machen zu lassen, das man noch nie gemacht hat.»: Marianne Weiss.
Bild: Caroline Fink

Konkret gefragt: Wen genau wollen Sie wovon befreien?

Ich will Frauen wie auch Männer von all diesen seltsamen Dingen befreien, die ‹man› so macht, weil es sich so gehört. In anderen Worten: Ich will uns von alten Strukturen und einem Weltbild befreien, das uns als Individuen nicht mehr gerecht wird.

Zum Beispiel vom Patriarchat, wie es in Ihrer aktuellen Podcast-Serie heisst.

Ja. Das Patriarchat war über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, eine bestimmende Struktur, die heute schlichtweg ausgedient hat. Eine Struktur, die aus Angst, Gier und Macht entstanden ist ...

... um die Hälfte der Bevölkerung hinsichtlich Konkurrenz auszuschalten.

Sie sagen es. Denken Sie mal an die Bilder archaischer Göttinnen. An Frauen in ihrer Urkraft, die erst erderschütternden Sex haben und dann noch neue Menschen entstehen lassen. Frauen verfügen von Natur aus über Kräfte, die Männern fehlen. Hier kam das Patriarchat ins Spiel. Dieses war dafür gedacht, um Frauen kleinzumachen und klein zu halten.

Wie erklären Sie Männern das Ende des Patriarchats?

Ich suche für meine aktuelle Podcast-Serie zu diesem Thema gezielt auch Männer. Denn sie leiden am Ende genauso unter dem Patriarchat wie die Frauen. Unter gesellschaftlichen Strukturen, die uns vorschreiben, wie wir als Frauen und Männer – kurz: als Menschen – zu sein haben, leiden wir alle.



Haben Sie für uns einen Rat, wie wir uns auf individueller Ebene von diesen Strukturen befreien?

Wir gewinnen alle, wenn wir – jede und jeder für sich – herausfinden, was die eigenen Bedürfnisse sind. Viele von uns orientieren sich daran, was ‹normal› ist. Doch ‹normal› ist ein Phantom, das dazu führt, dass wir am Ende als Attrappen von uns selbst durchs Leben gehen.

Ins Positive gewendet, heisst das ...

... dass wir auf Entdeckerreise gehen und unseren ureigenen Weg finden sollten. Dass wir herausfinden, was für uns wirklich zählt. Gelingt uns das, packen wir als Nächstes all die Geschenke des Lebens aus, die in uns schlummern.

Und um das Thema des Anfangs zurückzukommen: Was hat Sex mit dieser Befreiung zu tun?

Sex ist eine Urkraft! Sex ist die pure Lebenskraft!

Verstehe ich richtig: Dieselbe Urkraft, mit der wir in Kontakt kommen, wenn wir authentisch leben.

Exakt. Wenn wir unseren ureigenen Weg gehen, dann sprudelt in und mit uns der Fluss des Lebens. Dann sind wir frei und können uns um das wirklich Essenzielle im Leben kümmern – und andere ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen.

«Wir gewinnen alle, wenn wir – jede und jeder für sich – herausfinden, was die eigenen Bedürfnisse sind.»: Marianne Weiss.
«Wir gewinnen alle, wenn wir – jede und jeder für sich – herausfinden, was die eigenen Bedürfnisse sind.»: Marianne Weiss.
Bild: Caroline Fink

Eine ketzerische Frage: Hat es nicht gerade etwas Unfreies, wenn wir uns enthaaren lassen, um einem Schönheitsideal zu entsprechen?

Wissen Sie, es gibt Frauen, die sagen mir in der heissesten Sommerwoche: ‹Zum Glück sind die Haare weg, jetzt kann ich endlich in die Badi gehen.› – ‹Was?!›, antworte ich denen. ‹Warum gehst du nicht einfach behaart in die Badi?›

Gehen Sie selbst behaart in die Badi?

Ja sicher. Ich mag zwar das Gefühl von frisch enthaarter Haut – gerade im Intimbereich. Aber ich lasse mir doch nicht aufzwingen, mich ständig enthaaren zu müssen. Ich sehe das vielmehr als Abwechslung. Als etwas Zyklisches vielleicht auch: Mal hab ich Haare, mal nicht. Gerade so, wie es mir gefällt.

Woher haben Sie persönlich den Mut geschöpft, Ihren eigenen Weg zu gehen?

Eine Zeit lang hatte ich keine andere Wahl: Ich war Mitte zwanzig, junge Mutter, alleinerziehend und hatte keine feste Stelle. Da hiess es: Friss oder stirb.

Andere wären vielleicht untergegangen. Sie haben sich selbstständig gemacht und ein Kleinunternehmen aufgebaut. Woher diese Energie?

(Überlegt) Vielleicht ein Geschenk des Lebens?

Hatten oder haben Sie Vorbilder?

Vorbilder in dem Sinne nicht. Aber ich finde alle Frauen inspirierend, die ihr eigenes Ding machen und nach ihren eigenen Regeln und Normen leben. Sie bestärken mich immer wieder darin, meinen ganz eigenen Weg zu gehen.

Stay Wild, Go Sweet: Marianne Weiss ist auch auf Instagram zu finden.


Zur Autorin: Caroline Fink ist Fotografin, Autorin und Filmemacherin. Sie ist spezialisiert auf Reisen ans Ende der Welt, widmet sich als Alpinistin Geschichten aus den Bergen und interessiert sich als Feministin – am Berg und im Tal – für Themen wie Gender, Frauenrechte und Chancengleichheit. Ihr Credo in allen Arbeitsbereichen: Nur was einen selbst bewegt, hat die Kraft, andere zu inspirieren. www.caroline-fink.ch

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