Spital-Seelsorgerin Nicole De Lorenzi: «Der Tod macht unser Leben kostbar»

Von Bruno Bötschi

24.12.2022

«Trost kann ich sowieso nicht spenden oder einreden. Trost ereignet sich. Ich erlebe oft, dass Patient*innen sich getröstet fühlen, wenn jemand da ist»: Nicole De Lorenzi, Seelsorgerin im Kantonsspital Winterthur.
«Trost kann ich sowieso nicht spenden oder einreden. Trost ereignet sich. Ich erlebe oft, dass Patient*innen sich getröstet fühlen, wenn jemand da ist»: Nicole De Lorenzi, Seelsorgerin im Kantonsspital Winterthur.
Bild: Privat

Die Weihnachtstage möchte niemand im Spital verbringen: Pfarrerin Nicole De Lorenzi über Begegnungen mit schwerkranken Patient*innen und wie wichtig dabei Gott, das Trösten und der Humor sind.

Von Bruno Bötschi

24.12.2022

Nicole De Lorenzi, kürzlich habe ich gelesen, dass die Weihnachtszeit für Patient*innen im Spital oft eine schwierige Zeit sei, weil sie stärker mit ihrer Situation hadern als sonst. Ist das auch Ihre Erfahrung?

Ja, auch ich erlebe diese Zeit emotionaler als etwa die Sommerzeit. Im Dezember ist es kälter und dunkler. Die Menschen verbringen mehr Zeit zu Hause. Die Werbung verspricht Wärme und Liebe im Familienkreis. Dazu kommt der Shoppingstress für die Geschenke und die Hektik in der Stadt.

In diesen Tagen tauchen Fragen auf wie: Wer gehört zu mir? Zu wem gehöre ich? Mit wem werde ich die Weihnachtstage verbringen? Wer ist meine Familie? Für Patient*innen im Spital sind die Wochen um die Festtage oft nur schwierig zu ertragen – denn auch sie würden gern daheim sein.

Werden Sie in der Adventszeit von Patient*innen häufiger gerufen als sonst?

Heute haben mich vor allem Pflegemitarbeitende auf Patient*innen hingewiesen.

Um welche Themen ging es in den Gesprächen mit den Patient*innen?

Ich stehe unter Schweigepflicht, aber ich schildere Ihnen gern anonymisiert, was mir zu Ohren gekommen ist:

Eine junge Frau erzählt mir, dass sie für einen Eingriff am Knie hospitalisiert worden ist. Nach der Operation gab es Komplikationen. Jetzt hat die Frau grosse Angst. Sie macht sich um ihr kleines Kind zu Hause Sorgen. In so einer Situation bin ich da, höre zu und halte mit ihr ihre Tränen aus.

Danach sprachen wir über ihren Mann, ihre Familie und Gott. Die Frau war sehr dankbar. Sie hat realisiert, dass ihr Vertrauen ins Leben doch grösser ist als ihre Angst. Wir teilten Dankbarkeit. Danach verabschiedete ich mich und besuchte den nächsten Patienten. Dort ging es darum, dass er nicht mehr leben möchte und mich brauchte, um es dem Behandlungsteam klarzumachen. Er wollte keine weiteren Therapien und wir haben zusammen das Gespräch mit den Ärzt*innen vorbereitet.

Zur Person
Bild: Privat

Nicole De Lorenzi ist im Tessin aufgewachsen. Die Pfarrerin hat an der Universität in Zürich reformierte Theologie studiert. Um Spitalseelsorgerin zu werden ging sie nach San Francisco, um sich ausbilden zu lassen. Heute arbeitet sie für die reformierte Landeskirche im Kantonsspital Winterthur und unterrichtet angehende Seelsorger*innen an der Universität in Bern und Zürich. Daneben hat sie eine eigene Praxis in Zürich, wo sie selbständig als Coach/Supervisorin arbeitet.

Wie ist es für Sie, einem Menschen mit einem schweren Krankheitsverlauf zu begegnen?

Das macht mich unmittelbar betroffen. Ich bin dann oft gleichzeitig traurig, wütend, bescheiden und neugierig. Ich habe grossen Respekt vor Menschen, die es schwer haben. Das fordert mich auf mehreren Ebenen heraus – emotional genauso wie intellektuell. Ich frage mich dann: Warum muss das sein?

Wie stehen Sie einem schwerkranken Menschen im Spital konkret bei?

Ich versuche da zu sein, präsent, ausgerichtet auf mein Gegenüber. Mich interessiert, wie sie oder er mit dem schweren Krankheitsverlauf umgeht. Dieser Moment ist oft voller Überraschungen. Ich staune immer wieder, wie Menschen in solch schwierigen Lebenssituationen Ressourcen entwickeln oder entdecken.

Wollen Sie mehr erzählen?

Da kommt mir ein Patient in den Sinn, bei dem während einer Routineuntersuchung ein aggressiver bösartiger Tumor entdeckt wurde. All seine Pläne für die bevorstehende Pensionierung waren von einem Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt. Ich nahm mir die Zeit und liess mir alles genau erklären von dem Mann: Was ist das für eine Untersuchung? Wie genau lautete die Diagnose? Und was bedeutet das jetzt für ihn?

In solchen Situationen rede ich persönlich nicht gern um den Brei herum. Ich möchte vielmehr meinem Gegenüber die Möglichkeit geben, sich selber zu zeigen und sich selber zu reflektieren. Ich möchte mit dem Patienten die Ohnmachtsgefühle und Hilflosigkeit, die sich zeigen, aushalten.

Warum tun Sie das?

Ich bin der festen Überzeugung, dass das heilsam sein kann. Der Tumor-Patient machte sich viele Sorgen um seine Frau. Sie sei wegen seiner Diagnose am Boden zerstört. Ich bot ihm an, dass wir uns einmal zu dritt treffen können. Der Mann meinte, dass er sich sehr darüber freuen würde. Dieses Treffen steht uns noch bevor.

Wie oft ist Gott in solchen Gesprächen ein Thema?

Wenn Menschen eine derart krasse und lebensbedrohende Diagnose bekommen, tauchen sehr existentielle Fragen auf: Warum gerade ich? Was soll das? Worauf setze ich jetzt mein Vertrauen? Wie geht es weiter mit mir? Alle Antworten, die bisher getragen haben, taugen nichts mehr. Menschen sind gezwungen, alles neu zu bedenken, sich neu zu entwerfen, die Welt und sich neu kennenzulernen. Da stellt sich unweigerlich die Frage nach dem, was trägt, nach dem, was sinnvoll ist. Das ist für mich die Gottesfrage, die Suche nach Gott. Explizit über Gott wird aber nur selten gesprochen.

Warum nicht?

Ich frage mich manchmal, ob es Hemmungen gibt oder sogar Scham, über Gott zu reden. Ältere Menschen sprechen unvoreingenommen über den Herrgott. Da ist auch das Gebet erwünscht. Meine Rolle besteht darin, sensibel zu bleiben und die Sprache meines Gegenübers aufzunehmen. Jüngere Generationen reden eher von Kraft oder Liebe. Der Gottesname verändert sich, aber auch die Sprache, wie Menschen über ihren Glauben reden.

Fällt es Ihnen manchmal schwer, nur mit Worten Trost zu spenden?

Trost kann ich sowieso nicht spenden oder einreden. Trost ereignet sich. Ich erlebe oft, dass Patient*innen sich getröstet fühlen, wenn jemand da ist. Die Präsenz eines Menschen kann ein Geschenk sein. Die Worte Präsent und Präsenz sind verwandt.

Werden Sie oft gefragt, was nach dem Tod kommt?

Eher selten. Menschen sind mehr mit dem beschäftigt, was alles vor dem Tod geschieht.

Wenn Sie doch einmal nach dem Danach gefragt werden: Haben Sie immer eine Antwort bereit?

Diese Frage habe ich befürchtet. Wenn ich merke, dass Patient*innen wirklich wissen möchten, was ich darüber denke, dann gebe ich eine Antwort. Diese Antwort hat sich im Laufe der Jahre verändert und hängt mit meiner persönlichen Entwicklung zusammen. Heute würde ich sagen: Ich weiss nicht, was uns nach dem Tod erwartet, aber mein Glaube stimmt mich zuversichtlich. Ich glaube, dass das Leben weitergeht, dass jeder und jede von uns sich verwandelt und weiter als Energie oder Bewusstsein bleibt. Der Tod macht unser Leben enorm kostbar. Mich interessiert jedoch das Leben. Wenn ich dann sterben werde, werde ich erleben, wie es ist. Vorher sind es spekulative Gedanken. Gleichzeitig verstehe ich, dass wenn jemand am Sterben ist, sich mit dem Thema auseinandersetzt. Und dann möchte ich zur Seite stehen und begleiten, wenn es erwünscht ist.

Als Seelsorgerin im Kantonsspital Winterthur sind Sie auch für die Mitarbeitenden da. Welche Fragen werden von dort an Sie herangetragen?

Oft kommen Mitarbeiter*innen zu mir und möchten mit mir über ihre private Lebenssituation oder über die Belastungen am Arbeitsplatz reden. Auch sie brauchen ein offenes Ohr und jemanden, der Zeit hat. Sie wissen, dass ich unter Schweigepflicht stehe und nicht direkt vom Spital angestellt bin. Ich werde auch von leitenden Mitarbeiter*innen gerufen, um ganze Teams zu begleiten, wenn etwas Schwieriges passiert ist. Kürzlich ist eine Mitarbeiterin, die sehr beliebt war, plötzlich gestorben. Da habe ich versucht, das Team zu begleiten und zu unterstützen. Am Schluss entstand das Bedürfnis, ein Abschiedsritual zu gestalten. Das war sehr bewegend und sinnvoll.

Man liest häufig von der extrem hohen Belastung der Mitarbeitenden im Gesundheitswesen. Wie gehen Sie damit um?

Ich frage die Mitarbeitenden immer wieder, wie es ihnen geht, weil ich tatsächlich sehe, wie viel sie bewältigen müssen. Ich versuche achtsam und wach für die Mitarbeitenden da zu sein und mir Zeit für sie zu nehmen, wenn es nötig ist. Im stressigen Spitalalltag kann eine solche Aufmerksamkeit bedeuten, gemeinsam zu lachen.

Zurück zu den Weihnachten: Gibt es eigentlich auch Menschen, die froh sind, während dieser Zeit im Spital zu sein, weil sie sonst allein zu Hause wären, oder die es einfach schätzen, nicht bei den obligaten Familientreffen dabei sein zu müssen?

Es gibt solche Menschen, aber viele sind es nicht. Ich persönlich arbeite gern an Weihnachten. Es ist eine besondere, schöne Stimmung unter den Mitarbeitenden und den Patient*innen, bei denen jetzt klar ist, dass sie über die Festtage bleiben werden. Es ist auch ruhiger, da weniger operiert wird. Es sind alle netter zueinander.

Viele Menschen haben eine Heile-Welt-Vorstellung von den Festtagen. Dabei beschreibt die biblische Weihnachtsgeschichte alles andere als eine Idylle.

Danke für diesen Gedanken. Viele Menschen haben tatsächlich eine Heile-Welt-Vorstellung von Weihnachten und gleichzeitig spüren sie umso mehr, dass es doch einen Konflikt in der Familie gibt. Gegensätzliches prallt in der Adventszeit aufeinander: Die Sehnsucht nach einer heilen Welt und die Tatsache, dass Menschen krank werden, dass Krieg herrscht, dass es Ungerechtigkeit gibt. Genau in dieser Zeit feiern wir Weihnachten. In der dunkelsten Zeit im Jahr. Als Erinnerung, dass es trotzdem Grund zur Hoffnung gibt.

Weihnachten bedeutet für mich, dass Gott mit uns sein will trotz all der Dunkelheit. Und dass er näher ist, als wir denken – etwa im Lächeln einer fremden Person, bei einer unerwarteten befreienden Nachricht, in der Freude beim Tanzen, wenn wir Dankbarkeit spüren, wenn wir die Schönheit in allen Lebewesen sehen und wenn wir die Verbundenheit zueinander spüren. Ich glaube, diese Momente kennen wir alle.

Ihr innigster Weihnachtswunsch?

Mehr Vertrauen. Viel mehr Vertrauen in uns selber, in den Nachbarn, in die Tochter, in die Arbeitskolleg*innen, in den Freundeskreis, ins Leben und in die Liebe. Das wünsche ich uns allen. Vertrauen verbindet das, was uns trennt.


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