Kolumne am Mittag«Sekretärinnen-Idol», das seiner Zeit voraus war – Gitte Haenning wird 74
Von Bruno Bötschi
29.6.2020
In den 1980er-Jahren kämpfte sie singend für die Gleichberechtigung der Frau. Heute, an ihrem 74. Geburtstag, musste Sängerin Gitte Haenning möglicherweise feststellen: So weit sind wir noch lange nicht.
«Jetzt leb' ich jeden Tag aus Jetzt trink' ich jedes Glas leer Ich will nicht viel Ich will mehr»
In ihrer erfolgreichsten Zeit war sie hierzulande ungefähr so trendig, wie es aktuell Beyoncé, Taylor Swift und Lady Gaga sind. Nur hiess das damals nicht Pop, sondern Schlager – die Rede ist von Gitte Haenning.
Anfänglich als harmloses Schlagermädchen unterwegs schlug die dänische Sängerin ab 40 nicht mehr ganz so liebliche Töne an. Das passte zur damaligen Zeit. Seit 1981 steht der Gleichstellungsartikel in der Schweizer Bundesverfassung. Ein Jahr später sang Haenning «Ich will alles» und «Ich bin stark».
Die trotzig-fordernden Songs waren Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins. Den Frauen gefiel es, manch ein Mann sah seine Felle davon schwimmen. Die Berliner Tageszeitung «Taz» kanzelte Haenning als «Idol der Sekretärinnen» ab, die «FAZ» schwadronierte von einer «traurigen Frau mit Zuversicht».
«Nie mehr bescheiden und stumm Nie mehr betrogen und dumm Nein! Ich will alles Ich will alles Und zwar sofort»
Ich war damals 15 Jahre alt und dachte: Warum sollen die Frauen nicht alles kriegen? Die Männer bekommen es ja auch.
Heute weiss ich: Die Frauen kriegen nach wie vor nicht alles. Von Gleichberechtigung in allen Bereichen der Gesellschaft sind wir noch weit entfernt. Leider.
Schlagermädchen ja, starke Frau lieber nicht
Gitte Haenning war in den 1950er-Jahren ein Kinderstar in Dänemark, ein Jahrzehnt später wurde sie (oft mit Rex Gildo) als Traum aller Schwiegermütter gehandelt («Ich will 'nen Cowboy als Mann»), worauf sie Ende der 1970er-Jahre ein Imageproblem bekam.
Schlagermädchen ja, starke Frau lieber nicht. «Dass sie auf dem Notenblatt einen Violinschlüssel von einem Fliegenschiss zu unterscheiden vermag, rechneten ihr die Feuilletons hoch an – das Publikum allerdings wollte von ihr Schlager, keine Bekenntnisse und kein Reifezeugnis», notierte die «Taz».
Nur: Die Sängerin wollte nicht nur die lustige Dänin mit dem süssen Akzent sein. Sie wollte, was Rex Gildo nicht geschafft hatte: raus aus dem ewigen Hossa. «Wenn man sich zu sehr vom Publikum leiten lässt, verliert man sich selbst», sagte sie in einem Interview. «Ich muss klug genug sein, die Menschen immer wieder zu überraschen.» Das war sie.
«Ich will alles Ich will alles Sperr' mich nicht ein Ich will nie mehr Zu früh zufrieden sein»
Es wurde schon oft über den deutschen Schlager geschimpft. Haenning liess sich davon nicht unterkriegen. Sie zeigte sich stattdessen – je länger, desto betonter – als selbstbewusste Frau, die sich als Künstlerin entwickeln will. Die Sängerin wurde eine anspruchsvolle Jazz-Vokalistin, es folgten Theaterauftritte und Shakespeare-Abende. Sie suchte die Herausforderungen. Und das war gut so.
Denn Gitte Haenning hat den Menschen etwas gegeben, das weit über die Musik hinausging. Und dies, obwohl sie stets Zweifel plagten: «Die Diskrepanz zwischen Sein und Anspruch hätte mich fast zerrissen. Ich war oft drauf und dran, das Showbiz an den Nagel zu hängen.»
So weit ist es nicht gekommen – zu unserem Glück. Apropos: Alles Gute zu Ihrem 74. Geburtstag, Frau Haenning. Lassen Sie sich feiern!
Die kursiven Textstellen sind Textzeilen aus dem Song «Ich will alles» von Gitte Haenning.
Regelmässig gibt es werktags um 11:30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «Bluewin» die Kolumne am Mittag – es dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.