Schwer krankSchweizer TV-Legende Karl Erb (91) denkt über den Freitod nach
Jürg Wiler
7.5.2018
Der Sportjournalist Karl Erb hat mit seiner starken Stimme während zwei Jahrzehnten bei TV-Übertragungen den Ton angegeben. Heute dominieren eine schwere Augenkrankheit und Herzbeschwerden das Leben des 91-Jährigen. Doch er klagt nicht. Er weiss: Sollte er eines Tages seine Selbständigkeit verlieren, will er mit Exit gehen.
Karl Erb spricht sofort Klartext: «Ich habe heutzutage keine Geduld mehr. Wenn jemand nicht direkt auf das Relevante zu sprechen kommt, dann löscht es mir ab!»
Man ist also gewarnt – ohne Grund, wie sich erweist. Denn was der grossgewachsene Mann mit den dicken Brillengläsern und dem Hang zum Radikalen von seinen Gesprächspartnern erwartet, hält er auch für sich selbst. Seine metallene, ja vertraute Stimme nimmt den Besucher mit zu einem Gang durch sein bewegtes Leben. Er erzählt, dass er immer sehr rasch entschlossen gewesen sei.
Als «prima-vista-Journalist» habe er unmittelbar nach einer Veranstaltung sofort etwas darüber schreiben können. «Durch dieses Spontane habe ich viele Fehlentscheide, aber auch viele gute getroffen. Ich bin gegen ein fehlerfreies Leben», redet sich der Zürcher mit Berner Oberländer Wurzeln in Fahrt.
Vom Reporter zum Direktor
Mit dieser Einstellung kam der wortgewandte Erb weit herum in seinem Berufsleben. Als Sportjournalist, Redaktor, Kommentator, Pressechef von verschiedenen Veranstaltungen und Speaker berichtete er in Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch über grosse Skirennen, Autobergrennen und Pferdesportveranstaltungen im In- und Ausland. 1962 war er zum ersten Mal im Fernsehen zu hören und zu sehen. Gut zwei Jahrzehnte kommentierte Karl Erb Skirennen von Wengen über Adelboden bis nach
Sapporo, von wo aus er sich 1972 bei den Olympischen Spielen mit seinen Reportagen von den Schweizer Erfolgen in den heimischen Stuben quasi Kult-Status erlangte. 1980 berichtete er als 54-Jähriger zum letzten Mal am Fernsehen aus dem alpinen Ski-Zirkus; «damals war ich etwas ausgebrannt», sagt die Reporterlegende auch 38 Jahre nach seiner letzten Live-Übertragung mit kräftiger Stimme.
Nach seinem Ausstieg publizierte Erb als Autor und Herausgeber zahlreiche Werke zu Sportthemen, wurde Direktor eines bekannten Fitnessclubs und wirkte noch eine Zeitlang bei einem Kreditkartenunternehmen. Anfang der 90er Jahre dann brach er seine Zelte in der Deutschschweiz ab und zog an den Lago Maggiore.
«Einfach nur beschwerlich»
Heute wohnt er in einer Zweieinhalb-Zimmer-Eigentumswohnung inmitten von Arvenmöbeln in Muralto bei Locarno. «Sie zu ‹poschten›, war ein sehr guter Entscheid. So kann mich niemand mehr rauswerfen aufs Alter», erklärt der 91-Jährige humorvoll. Überhaupt nicht lustig findet er jedoch das eigentliche Alt-Werden: «Das ist kein Wunschkonzert, sondern einfach nur beschwerlich!» So seien Schwierigkeiten mit der Gesundheit und im persönlichen Umfeld unumgänglich, man müsse sie ertragen lernen.
Und zu seinem Credo: «Ich bin nicht gläubig, aber ich glaube ans Schicksal, le destin, verstehen Sie. Das ist für mich entscheidend. Es gestaltet sich bei jedem Menschen wieder anders.» Sein persönliches Schicksal nahm vor sechs Jahren seinen Anfang: Bei ihm, der von Kindsbeinen an Probleme mit den Augen hatte und mit «dä Brülleschaaggi» gehänselt wurde, wurde eine altersbedingte Makuladegeneration diagnostiziert, die häufigste Ursache für eine Sehbehinderung im Alter.
Erb leidet an der so genannt trockenen Form der Krankheit, bei der das Sehen oft über lange Zeit stabil ist und sich in der Regel nur langsam verschlechtert. Für diese Form gibt es keine wirksame Behandlung. Erb beschreibt es so: «Makula ist ekelhaft, weil die zentralen Sehnerven abgestorben sind. In der Mitte fehlt immer etwas.» Die einzige Prognose sei, dass man nicht erblinde.
Hingegen stelle er fest, dass sich seine Sehfähigkeit in den letzten Monaten massiv verschlechtert habe. Wenn er in den Bildschirm schaue, habe er das Gefühl, dass seine Brille angelaufen sei. Fernhören statt Fernsehen Das ist relevant. Denn er verbringt viel Zeit vor dem Fernseher, am liebsten bei Sportsendungen.
Nur: Obwohl in seinem Wohnzimmer der grösstmögliche TV-Monitor steht, sieht er zum Beispiel bei Skirennen die Fahrerinnen und Fahrer nicht. Das einzige, was er wirklich sieht, sind die Zahlen am unteren Bildrand, die Zeit und Rang angeben. Was an den Rennen wirklich passiert, erkennt er nur nach diversen Wiederholungen. Und er hört ganz genau hin, was die Kommentatoren und Kommentatorinnen erzählen: «Es ist voll von Fehlbeurteilungen, eine nach der anderen…», meint der Sportreporter der ersten Stunde in kritischem Eifer.
Um gleich danach Grundsätzliches nachzuschieben: Oft sei ihm vorgehalten worden, dass Sport zweitklassig sei, sein Interesse daran auf Unverständnis gestossen. Dennoch habe er sich immer dem Sport verpflichtet gefühlt und sich dafür eingesetzt. Zum Beispiel beim Nationalen Komitee für Elitesport oder bei Swiss Olympics, wo er das älteste noch lebende Ehrenmitglied ist. «Es tut mir weh, dass der Sport mit seinen leitenden Funktionären in Misskredit gefallen ist. Dabei ist der Sport für mich ein Abbild der Gesellschaft, analog zur Wirtschaft und zur Politik», stellt er klar.
Was ihn zudem beschäftigt, ist eine Angina pectoris, die ihm seit rund fünf Jahren das Leben noch schwerer macht. Die im Volksmund genannte «Brustenge» wird ausgelöst, wenn das Herz nicht mehr genügend mit Sauerstoff versorgt wird. Ursache davon sind verengte Herzkranzgefässe. Bei Erb liegt eine stabile Angina pectoris vor. Die Schmerzattacken verlaufen jeweils gleich und lassen nach, wenn er sich Ruhe gönnt und die verordneten Medikamente einnimmt. So schlucke er halt seine Pillen, damit habe er seine Beschwerden einigermassen im Griff: «Doch alles zusammen ergibt eine Mischung, die für mich bedenklich ist.»
Diese Mischung führt dazu, dass Erb den Sport nur noch am Fernsehen geniessen kann. Noch vor der Angina pectoris verbrachte der Wahltessiner auch im hohen Alter zumindest einen Teil seines Alltags draussen. Heute ist es ihm wichtig, dass er pro Tag in seiner Wohnung 1000 Schritte macht. «Damit ich zumindest etwas fit bleiben kann. Das ist nur möglich, weil ich jeden Quadratzentimeter in meinen zweieinhalb Zimmern haargenau kenne.»
Den Gang nach draussen wagt der 91-Jährige nur noch selten: Hin und wieder geht er ins ‹Lädeli› um die Ecke, «was für mich wie eine Expedition ist.» So muss er bei jedem Schritt peinlichst aufpassen. Und lebenswichtig: Er muss zugleich für die Auto- und Rollerfahrer denken. Ansonsten sei er «immer hier in meinem Reich – ich kann nirgendwo mehr hin.»
Kein Selbstmitleid
Sein wichtigstes Ziel dabei ist, selbständig zu bleiben. Nur alle 14 Tage schaut eine Putzfrau vorbei, sonst macht er den Haushalt selbst. Da er in seiner Wohnung nicht mit dem Staubsauger hantieren kann, bleibe natürlich das eine oder andere «Brösmeli» mal liegen, erzählt er lächelnd.
Überhaupt: Um mit der nicht einfachen Situation zurechtzukommen, braucht er Humor. Es bleibe ihm ja nichts anderes übrig. In schwierigen Situationen kommt ihm zuweilen ein geflügeltes Wort des Schweizer Fussballtrainers Hanspeter Latour in den Sinn: ‹Nüd gränne! Wiiterschpiele!› «Das wirkt», sagt er, und stellt klar: «Ich sehe mich nicht als ‹arme Siech›, überhaupt nicht!»Damit es noch möglichst lange so bleibt, versucht er, seinen Alltag in seinen vier Wänden auf Spur zu halten. Um ihn zu strukturieren, greift er auf ein tägliches Programm zurück – «ob es mir nun stinkt oder nicht, ich ziehe es einfach durch. Wenn ich nur noch rumhänge, ist es nicht mehr gut», meint er engagiert.
Unentbehrlich im gefüllten Tagesablauf für ihn ist, sich morgens gleich nach dem Aufstehen eine Stunde am Fernsehen über die Aktualitäten zu informieren. Denn Zeitung lesen geht nicht mehr. Nach dem Frühstück hört er Musik, zum Mittagessen stehen Früchte auf dem Speisezettel, den Nachmittag verbringt er in der Regel wieder vor dem TV. «Was ich eigentlich mache, ist mehr fernhören als fernsehen», konstatiert er. Also hört er sich Sendungen aus allen Wissensgebieten an, vor allem über die Politik, zum Beispiel Diskussionsrunden: «Indem ich mich damit herumschlage, bleibe ich beweglich.»
Was ihm besonders auffällt: «Die Exponenten hören wenig zu, fallen einander ins Wort und attackieren sich wenn möglich unter der Gürtellinie. Das ist eine Kultur ohne Respekt. Ich mache mir so meine Gedanken darüber und schüttle nicht selten den ‹Grind›. Doch ich sage mir, ihr müsst damit fertig werden. Das ist nicht mehr mein Business.»
Gegen Abend will Erb dann schön seine Ruhe haben und bereitet sich eine einfache, warme Mahlzeit zu – er finde jedoch oft die Zutaten nicht mehr und müsse aufpassen, dass er sich nicht in die Finger schneide, erzählt er.
Hingegen ist auf die Frage, woraus er denn im täglichen Leben Kraft schöpfe, die Pause lang. Dann fährt er fort: Er lebe bescheiden, Luxus sage ihm nichts. Selbstverständlich sei auch seine Tagesform verschieden. Sein Credo lautet: «Ich bleibe dran.» So habe er in seinem Leben immer versucht, Disziplin zu halten – «natürlich gab es auch Phasen, während denen ich das eine oder andere übertrieben habe», räumt er ein. Wichtig sei ihm zum Beispiel, tagsüber keinen Alkohol zu trinken, ausser zu speziellen Momenten. Beim Zubereiten des Abendessen trinkt er dann «ein Gläschen Weissen. Das macht mir Spass.»
Langjährige Beziehung gibt ihm Energie
Ebenfalls Energie gibt ihm die Beziehung zu seiner Lebenspartnerin, die beiden leben jedoch in getrennten Wohnungen. Karl Erb erzählt: Sie habe eine schwere Rückenoperation hinter sich, die schiefgelaufen sei. Inzwischen habe seine Partnerin über 40 Operationen hinter sich, unter anderem wegen einem schweren Autounfall. Dazu kam ein Schlaganfall. «Sie ist ein Muster von Zähigkeit und Durchhaltewillen für mich.» Mit ihr pflegt er einen engen telefonischen Kontakt, drei- bis viermal pro Tag, da er wegen seiner eingeschränkten Sehfähigkeit ja kaum noch aus dem Haus geht und auch auf die modernen elektronischen Kommunikationsmittel verzichten muss.
Etwa jeden dritten Tag telefoniert er zudem mit seiner 41-jährigen Tochter in Zürich, was ihm ebenfalls viel gebe. Dazu stehe er in regelmässigem Kontakt mit seinem jüngeren Bruder, der mittlere sei bereits vor einiger Zeit gestorben. Seit 18 Jahren sei er – von kleinen Ausnahmen abgesehen – immer allein durchs Leben gewandert, hält der Mann fest. Und weiter: «Ich kann gut allein sein. Ich brauche keinen Beifall.» Natürlich freue es ihn, so schiebt er nach, wenn er hin und wieder eine Reaktion bekomme.
Habe ihn doch kürzlich die ehemalige Skirennfahrerin MarieTheres Nadig spontan angerufen und sich nach seinem Befinden erkundigt. Das tue schon gut.
Überhaupt: Solange für ihn seine Lebensqualität – «diesen Begriff definiere ich ganz allein und niemand anders» – noch stimme, solange stimme es grundsätzlich für ihn. Sobald dies nicht mehr der Fall sei, will er den Schlusspunkt setzen.
Seit längerem mit dem Tod auseinandergesetzt
Dieser Zeitpunkt sei dann erreicht, wenn er es nicht mehr schaffe, dem eigenen Haushalt gerecht zu werden. «Ich will keine Pflege, ich will niemandem zur Last fallen, und ich will nicht in ein Heim», bringt er es auf den Punkt. So hat der ehemalige Journalist diverse Erinnerungen an Alters- und Pflegeheime: «Sie sind nützliche und wichtige Institutionen – aber ich habe sie als schlicht deprimierend erlebt. Einerseits bei meinem Bruder, der an Demenz litt, anderseits bei meiner Partnerin, als sie in der Rehabilitation war.»
Zum Schluss weist Karl Erb darauf hin, dass er sich schon seit längerem mit dem Thema Tod auseinandersetze. Deshalb sei er auch vor 12 Jahren Exit-Mitglied geworden. «Der Verein ist eine ganz gute Sache»; er stehe hundertprozentig dazu, auch weil es mit seiner Lebensphilosophie übereinstimme. Und weil er keine lebensverlängernden Massnahmen will, wenn irgendetwas passiert, besitzt er auch eine Patientenverfügung: «Dann darf nichts mehr gemacht werden. Gar nichts! Ich will nicht dahinsiechen. Wenn ich mal sage, jetzt langet‘s, dänn langet’s.»
Sowohl den Beitritt zu Exit als auch die Patientenverfügung habe er in Übereinstimmung mit seinem Hausarzt, seiner Partnerin und seiner Tochter gemacht. Auch die Frage, ob er Angst vor dem Sterben habe, beantwortet er blitzschnell und glasklar: «Nein! Das ist das Natürlichste und Normalste auf der Welt. Es kommt, und jeder geht diesen Weg.»
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Fünf Jahre Corona: Das wird nicht wieder verschwinden, so warnten Fachleute von Beginn an. Tatsächlich sind auch aktuell wieder zig Menschen mit Coronaviren infiziert. Doch ist das noch ein Grund zu grösserer Besorgnis?
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