Keine Weihnachtslieder Wenn Kindern das Singen nicht mehr erlaubt ist

Von Sulamith Ehrensperger

1.12.2020

Das Singen eines Begrüssungsliedes ist ein häufig genutztes Eröffnungsritual im Unterricht.
Das Singen eines Begrüssungsliedes ist ein häufig genutztes Eröffnungsritual im Unterricht.
Bild: Getty Images

Schwere Zeiten für Pädagoginnen und Pädagogen: Wegen der Covid-Situation ist das Singen in vielen Unterrichtsräumen nicht erlaubt. Eine Adventszeit ohne Lieder? Was das für Kinder und Lehrpersonen bedeutet.

Diese Weihnachten werden anders, auch in den Klassenzimmern. Gemeinsam ein Wiehnachtsliedli im Kreis singen – darauf verzichten im Corona-Advent viele Kindergärten und Schulen. Auch das «Happy Birthday», wenn ein Kind Geburtstag feiert, oder das «Heile, heile Säge», wenn das Knie aufgeschlagen ist, sind vorläufig nicht mehr zu hören.

Wegen der Covid-Situation ist das Singen in Gruppen in vielen Unterrichtsräumen nicht mehr erlaubt. Die Bestimmungen sind allerdings kantonal unterschiedlich geregelt. «Bei musikalischen Aktivitäten der Schule ist auf das Singen in Gruppen möglichst zu verzichten», heisst es etwa aus dem Kanton Zürich. Während im Kanton Bern das Singen innerhalb der Klasse erlaubt ist, auf der Sekundarstufe I mit Maske.

Die Übertragung des Coronavirus müsse auch im Schulsetting möglichst verhindert werden, sagt Franziska Peterhans, Zentralsekretärin für den Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer LCH: «In einer Schulklasse sind 20 bis 25 Kinder in einem begrenzten Raum beieinander, da ist es nicht gescheit zu singen, weil die Übertragungsgefahr dann besonders hoch ist.» Eine Massnahme, die für den Kindergarten- und Schulalltag eine Herausforderung darstellt: «Wir wissen, dass es auf allen Stufen ein Problem ist, weil das Singen im Unterricht etwas ganz Wichtiges ist.»

Singen ist ein Alltagsritual

«Wenn ich mit den Kindern nicht mehr singen darf, werfe ich den Bettel hin», sagt eine Kindergarten-Lehrperson, die anonym bleiben möchte, «Das Singen hat einen positiven Effekt auf die Psyche. In dieser schwierigen Zeit mit Kindern nicht mehr singen zu dürfen, ist doch grundfalsch.» Alle Alltagsrituale im Kindergarten würden auf Liedern basieren: der Morgenkreis, das Abschiedslied «S Zwölfi-Glöggli lüütet scho. Jetzt isch Zyt zum Heigah», sogar das Aufräumen mit den Kindern.

«Kleine Kinder brauchen Rituale, da gehören Lieder unbedingt dazu. Ohne Singen kann ich nicht arbeiten», gibt die Lehrkraft zu bedenken. Ihre Flöte habe sie gegen das Klavier eingetauscht, dieses stehe drei Meter von den Kindern entfernt, und singen würde sie nur mit Mundschutz, den sie aufgrund der generellen Maskenpflicht im Unterricht ohnehin ständig trägt.

«Ein tägliches Dilemma»

Aus anderen Kindergärten und Schulzimmern heisst es auf Anfrage, dass man die Lieder summe oder zum Singen nach draussen gehe. «Ich halte mich sehr an die Bestimmungen und singe nicht mehr mit den Kindern», erzählt eine Lehrperson, die in einem Privatkindergarten unterrichtet. Statt auf Liedli setze sie nun auf Sprüchli, Versli und Reime. Sie beobachtet, dass ihre Kolleginnen und Kollegen die Situation ganz unterschiedlich handhaben. Sie persönlich erlebe es als «tägliches Dilemma», weil Singen nun mal zum Kindergartenalltag gehöre.

Gerade zur Vorweihnachtszeit ist Musizieren für viele Menschen ein Kulturgut – eines, das man den Kindern weitergeben möchte. Das Singen fördere nicht nur die Lebensfreude, sondern auch die kindliche Entwicklung und das Lernen, sagt Peterhans. Auf Kindergarten- und Primarstufe sei ein grosses Stück des Unterrichts auf dem Mündlichen aufgebaut, damit auch auf dem Singen, weil dies dem Lernen der Kinder dieses Alters entspreche.

Verstummen, damit die Schulen offen bleiben

Ebenso stecken die Gymnasien laut Peterhans in einer Problemsituation: Musik sei ein Unterrichtsfach, das für die Matur zähle, nun könne das Singen nicht mehr benotet werden. «Dennoch muss auch aus Sicht des LCH die Gesundheit klar den Lead haben, auch wenn es pädagogisch harte Einschränkungen bedeutet», betont Peterhans, «zu singen ist im Moment nicht angebracht.»

Beim Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH beobachte man, dass die entstandene Lücke mit viel pädagogischem Geschick und neuen Ideen gefüllt würde – etwa durch Rhythmik, Klatschen oder Bewegungsabfolgen, die weniger Aerosol-erzeugend sind. «Ich sage damit nicht, dass Klatschen die Musik ersetzen kann, aber wir müssen derzeit mit gewissen Einschränkungen leben, damit die Schulen offen bleiben können.» Man habe nach dem ersten Lockdown in den Schulen die Erfahrung gemacht, dass sehr viele Kinder «viel zu wenig lernen», wenn sie nicht zur Schule gehen können.

Auch für die Kindergarten-Lehrperson sind Klatschen, Sprechverse oder Summen nur eine Ergänzung, aber kein Ersatz fürs Singen: «Beim Singen erleben die Kinder Geborgenheit. Mit einer Melodie hole ich sie im Herzen ab.» Statt einem «Stille Nacht» aus vollem Herzen dürfte die Stille in vielen Klassenzimmern in diesem Corona-Advent wortwörtlich umgesetzt werden.

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