Kolumne Wie ich meine verlorene Zeit wiedergefunden habe

Von Caroline Fink, Kathmandu (Nepal)

25.5.2021

An Corona erkrankt, lernt die Kolumnistin warten im Garten des historischen Hotel Manaslu in Kathmandu.
An Corona erkrankt, lernt die Kolumnistin warten im Garten des historischen Hotel Manaslu in Kathmandu.
Bild: Caroline Fink

Es war der Aufbruch zu einer grossen Reise: Filmarbeiten an einem unbekannten Achttausender in Nepal. Doch am Ende fand die Kolumnistin nicht nur Stoff für Abenteuer, sondern vor allem viel Zeit in einem verwunschenen Garten.

Von Caroline Fink, Kathmandu (Nepal)

25.5.2021

Vergangenes Jahr kaufte ich mir ein Notizbuch. Die Seiten waren leer, doch der Einband wirkte wie jener eines literarischen Romans. In pink glänzenden Lettern prangte der Titel auf Schwarz: «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.»

Ein Jahr lang notierte ich darin Ideen zu Projekten, Gedanken zu Arbeiten und Listen von Dingen, die ich erledigen wollte. Bloss die verlorene Zeit fand ich nicht wieder. Im Gegenteil. Das Jahr raste vorbei wie nie zuvor. Zwei Wochen Ferien kamen und gingen, Corona kam und blieb, derweil ich weiter durch Tage und Wochen hastete.

Vor zwei Monaten dann reiste ich ab Richtung Nepal. Nicht ferienhalber, sondern einmal mehr der Arbeit wegen. Es ging um ein Projekt, das vielleicht mehr Energie denn je fordern würde:

Zur Autorin: Caroline Fink
Bild: Gaudenz Danuser

Caroline Fink ist Fotografin, Autorin und Filmemacherin. Selbst Bergsteigerin mit einem Flair für Reisen abseits üblicher Pfade greift sie in ihren Arbeiten Themen auf, die ihr während Streifzügen in den Alpen, den Bergen der Welt und auf Reisen begegnen. Denn von einem ist sie überzeugt: Nur was einen selbst bewegt, hat die Kraft, andere zu inspirieren.

Gemeinsam mit einer Equipe war ich unterwegs zum 8167 Meter hohen Gipfel des Dhaulagiri, den die Schweizer vor 61 Jahren erstbestiegen haben. Unser Ziel: eine Expedition zu filmen.

Alles lief gut, zumindest am Anfang

Das Projekt führte uns in entlegene Winkel des Himalajastaates. Durch Urwälder und Dörfer, die vor Jahrhunderten wohl genau so wirkten wie heute, über Geröllfelder und Gletschermoränen zum Basislager, welches am Fuss des Achttausenders liegt. Alles lief gut. Zumindest bis Anfang Mai. Doch dann fegte mit einem Mal Corona über Nepal und erreichte auch unser Basislager.

Um genau zu sein: auch unsere Expedition. Und um noch genauer zu sein: auch mich.

Wenige Tage später fanden wir uns wieder in Kathmandu. Ein Kathmandu indes, das wir kaum wieder erkannten: Die Millionenmetropole, die sonst in Lärm und Smog versinkt, schlief nun in einem Lockdown. Der Himmel war blau wie blank gefegt, die Gassen so still, dass man Vögel zwitschern und Hunde bellen hörte.

Und hier sitze ich nun seit zehn Tagen im historischen Hotel Manaslu. Gehe spazieren im Garten, in dem sich antike Buddhastatuen zwischen rankendem Grün verbergen. Sitze auf dem Balkon, während Wolken vorbeiziehen und der Wind in den nahen Baumkronen raschelt. Mal zwitschern Vögel, dann scheint die Abendsonne auf Backsteinmauern und Holzpalisaden. Mal bellt ein Hund, dann wieder gehe ich zum Frühstück.

Die Kolumnistin hat – fern der Heimat und inmitten eines Lockdowns – doch noch gefunden, wonach sie oft vergebens suchte: die verlorene Zeit.
Die Kolumnistin hat – fern der Heimat und inmitten eines Lockdowns – doch noch gefunden, wonach sie oft vergebens suchte: die verlorene Zeit.
Bild: Caroline Fink

Ab und zu erklingt der Dreiton meines Mobiltelefons. Meist sind es Nachrichten von Freunden und Familie in der Schweiz. Viele von ihnen fragen, wann ich nach Hause komme. Meine Antwort ist seit Tagen dieselbe: Ich weiss es nicht. Die nepalesische Regierung hat alle internationalen Flüge bis in den Juni hinein gestrichen. Die Botschaften arbeiten daran, mehrere Tausend gestrandeter Ausländer zurück in die Heimat zu bringen.

Aus den Nachrichten lese ich, dass viele denken, ich müsste sehr besorgt oder gar verärgert sein, hier festzusitzen. Doch nein – dem ist nicht so. Warum? Zum einen, weil mir immer wieder die Geschichten jener Bergsteiger einfallen, die 1939 für mehrere Monate in den Himalaja reisten und – der Krieg brach während ihren Expeditionen aus – erst sechs Jahre später heimkehrten. Warum also sollte ich mich über zwei oder drei Wochen beklagen?

Zum anderen habe ich hier – fern der Heimat und inmitten eines Lockdowns – doch noch gefunden, wonach ich so oft vergebens suchte: die verlorene Zeit. Eine Zeit, wie sie in meinem Notizbuch steht. Zumindest auf jenen Seiten, die nach wie vor leer sind.

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In der Rubrik «Kolumne» schreiben Redaktorinnen und Redaktoren, freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von «blue News» regelmässig über Themen, die sie bewegen. Leserinnen und Leser, die Inputs haben oder Themenvorschläge einreichen möchten, schreiben bitte eine E-Mail an: redaktion.news@blue.ch.


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