«Wie Kreuzfahrt ohne Scham»Warum Nachtzüge den Zeitgeist treffen
dpa/toko
22.5.2021 - 14:33
Wer umweltfreundlich etwa per Nachtzug durch Europa reisen will, muss derzeit nicht nur wegen Corona Abstriche machen. Wenige Verbindungen und schlechte Infrastruktur stehen im Weg, aber Forscher sehen dennoch grosses Potenzial. Auch die Corona-Pause geht langsam zu Ende.
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22.05.2021, 14:33
27.01.2022, 13:40
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Seit mehr als einem Jahr werden Reisen storniert, Urlaube abgesagt, sogar kleinere Ausflüge gestrichen. Viele blicken mit Sehnsucht und Fernweh auf den Sommer, in der Hoffnung auf Normalität. Dabei ändert nicht nur Corona die Art und Weise, wie wir Urlaub machen – auch die Klimakrise rückt etwa umweltbewusstes Reisen immer stärker in den Fokus. Auch deswegen attestieren Trend- und Zukunftsforscher Nachtzügen in Europa grosses Potenzial. Zwar fehle es noch an Infrastruktur und länderübergreifenden Verbindungen, es bestehe aber die Möglichkeit einer echten Renaissance, ergab eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter mehreren Forschern.
«Zeitalter der Comebacks»
Womöglich startet der Trend mit kleinen Schritten bereits Pfingstmontag. Dann werden die Österreichische Bundesbahnen (ÖBB) ihre coronabedingten Einschränkungen aufheben. «Unsere Nachtzüge fahren wieder ab 24. Mai», teilte ein Sprecher auf Anfrage mit. Anfang der Woche hatte sich auch der deutsche Verkehrsminister Andreas Scheuer für einen Ausbau europäischer Nachtzugverbindungen ausgesprochen.
«Wir leben heute, gerade nach Corona, im Zeitalter der Comebacks», sagt Matthias Horx, Gründer des Zukunftsinstituts, auch wenn er im Vergleich zu Kollegen noch vorsichtiger ist. Trendbeobachter Matthias Haas spricht davon, dass eine Renaissance aus verschiedenen Gründen zu erwarten sei. Eine Reise im Nachtzug, in der Langstrecke, biete Sicherheit bei gleichzeitiger Spannung – beispielsweise durch zufällige Begegnungen, sagte er der dpa. Eine Wiederentdeckung der Reise im ursprünglichen Sinne liefere die Bahn mit dem Nachtzug auf höchstem Niveau. Auch Eike Wenzel, Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung (ITZ), bejaht die Zukunftsfähigkeit dieser Reisemöglichkeit.
Das Potenzial haben verschiedene Unternehmen und Start-Ups erkannt. Von 2022 an soll eine neue Nachtzugverbindung die Moldau-Metropole Prag mit Dresden, Berlin, Amsterdam und Brüssel verbinden. Derzeit wird für das Vorhaben nach Investoren gesucht. Einem Bericht der Nachrichtenagentur Belga zufolge werden 500'000 Euro gebraucht. Ebenfalls Anfang April wurde bekannt, dass zwei belgische Unternehmer einen sogenannten Moonlight Express mit Fahrten von Brüssel über Lüttich nach Berlin auf die Schiene bringen wollen.
Kein europäischer Bahnfahrplan ist «Blamage»
Die Chancen für eine Renaissance sind laut den Wissenschaftlern und Beobachtern aber mit bestimmten Voraussetzungen verbunden. Trendforscher Peter Wippermann betont etwa, dass Ticketpreise mit denen von Billigfliegern mithalten müssten. «Dass wir keinen europäischen Bahnfahrplan haben, ist eine ziemliche Blamage und geht letztlich darauf zurück, dass Auto- und Flugverkehr – bis in gesetzliche Bestimmungen hinein – nach wie vor bevorzugt werden», betont Wenzel und moniert, dass es nie eine europäische Strategie für ein Bahnnetz gegeben habe.
Horx gibt zu bedenken, dass man eine Reisekultur in einer hochindividualisierten Gesellschaft erst wieder erlernen müsse. Derzeit sieht er eher Nischenchancen. «Das Schienennetz in Europa hat eben doch eine Menge Verbiegungen und mangelnde Verbindungsstrecken», so der Forscher. Ein Umbau der Schienennetze werde viele Jahre dauern. Wippermann spricht davon, dass die richtigen Voraussetzungen frühestens 2023 möglich seien.
Überzeugungstäter Mensch
Während Horx zudem betont, dass der Nachtzug nicht mit der Geschwindigkeit eines Fliegers mithalten kann, sagt Haas: «Menschen werden teilweise zu Überzeugungstäter und relativieren die Reisezeit bei einem entsprechenden Erlebnis.» Aber auch er sieht noch Nachholbedarf. Es brauche etwa eine lückenlose WiFi-Verbindung. «Über veganes Essen und alkoholfreien Wein im Speisewagen müssen wir nicht reden», solche Aspekte seien im modernen Leben ein Faktor. Zudem müssten «viele, viele Fotomotive» angeboten werden, so der Beobachter. Denn eine Selbstdarstellung über soziale Medien sei «zweifelsohne» inklusive. «Diese Reiseform ist wie das Kreuzfahrtschiff, nur ohne Scham.»
Auch Umfragen sprechen derzeit nicht gegen ein Comeback der Nachtzüge. Eine repräsentative YouGov-Umfrage im Auftrag der Umweltorganisation Germanwatch zeigte jüngst, dass in den betrachteten Ländern Deutschland, Polen, Frankreich, Spanien und in den Niederlanden im Schnitt mehr als die Hälfte der erwachsenen Bürgerinnen und Bürger bereit ist, bei einem «vernünftigen Preis» Flüge durch Zugreisen zu ersetzen. In Polen würden 37 Prozent der Befragten dafür auch Reisezeiten von mehr als sieben Stunden in Kauf nehmen. In den Niederlanden, Spanien und Frankreich sind es rund 25 Prozent, wobei Deutschland bei diesem Aspekt Schlusslicht mit 14 Prozent ist.
Derzeit hält vor allem die ÖBB die Nachtzugverbindungen am Leben. Sie bietet entsprechende Reisen unter anderem nach Italien, Deutschland, in die Schweiz, die Niederlande oder nach Osteuropa an. Die Züge werden teils zwar auch von der Deutschen Bahn betrieben. Doch ein eigenes Angebot hatte der bundeseigene Konzern mit Verweis auf die geringe Nachfrage bereits vor Jahren eingestellt. Wie im Dezember verkündet wurde, will er sich jedoch wieder stärker daran beteiligen.
Gemeinsam mit der Deutschen Bahn, der ÖBB sowie dem französischen Staatskonzern SNCF wollen die Schweizerischen Bundesbahn (SBB) in den kommenden Jahren die Nachtzugverbindungen in Europa wieder ausbauen. Schon Ende des Jahres soll es demnach möglich sein, per Nachtzug von Zürich über Köln nach Amsterdam zu fahren sowie von Wien über München nach Paris.