Afghanistan Afghanen auf Twitter Spaces: Auf der Suche nach Antworten

SDA

22.1.2022 - 10:12

Ein Mann schaut auf sein Smartphone. Foto: Stefanie Glinski/dpa
Ein Mann schaut auf sein Smartphone. Foto: Stefanie Glinski/dpa
Keystone

Bahar muss schmunzeln. «Ich habe vor kurzem einen Ex-Minister angeschrien», erzählt die junge Afghanin. Sie hatte auf Twitter Spaces in einem Livegespräch den Ausführungen von aus ihrem Heimatland geflohenen Beamten zum Fall von Kabul zugehört – bis ihr der Kragen geplatzt sei. «Ich wollte nicht ausrasten, aber dass sie meine Wut und Enttäuschung verstehen über all das, was heute in Afghanistan passiert», sagt die Aktivistin.

22.1.2022 - 10:12

Auch fünf Monate nach dem Fall Afghanistans an die militant-islamistischen Taliban kämpfen viele Afghaninnen und Afghanen weiter mit den massiven Umwälzungen, die der Machtwechsel mit sich brachte. Kaum jemand blieb davon unberührt, kaum einen liess er kalt. Viele wollen über das, was passiert ist, reden, oder sich für Änderungen einsetzen. Doch die Redefreiheit im Land wird von den neuen Machthabern zunehmend eingeschränkt, politische Partizipation – Fehlanzeige im Taliban-Regime. Die entstandene Lücke füllen Afghanen nun über soziale Medien – insbesondere auf Twitter Spaces, der Live-Audio-Chatfunktion von Twitter.

Selbst Afghanen lachen schon darüber, welche Ausdauer ihre Landsmänner und -frauen in den Spaces an den Tag legen. Die Debatten, die ähnlich wie Podiumsdiskussionen aufgebaut sind mit Moderator, Sprechern und Zuhörern, die später Fragen stellen, können auch mal acht Stunden dauern. Sie haben teils auch mehrere Tausend Zuhörer.

Die Intelligenzija des Landes diskutiert in den Spaces mit einfachen Bürgern über den Fall von Kabul und die Fehler der Vorgängerregierung; ehemalige Generäle rechtfertigen, warum die Armee nicht gekämpft hat ("Wir wollten nicht für die korrupten Politiker sterben"). Auch Ex-Minister oder Botschafter der Regierung des geflohenen Präsidenten Aschraf Ghani trauen sich wieder aus der Deckung und diskutieren mit – sie sehen die Schuld an den Ereignissen bei allen anderen, aber nicht sich selbst.

Wieder andere versuchen, auf die Taliban Druck auszuüben, indem sie Spaces über Menschen veranstalten, die von den Islamisten inhaftiert wurden – etwa die Ex-Polizistin Alia Asisi aus Herat oder den regimekritischen Professor Dschalal, der mittlerweile wieder frei ist. Die Debatten werden oft äusserst hitzig geführt, viele Taliban-Gegner machen ihrem Ärger Luft. Manche gehen so weit, dazu aufzurufen, das Land entlang ethnischer Linien zu teilen. Gelacht wird eigentlich nie.

«In der Tat enden viele Spaces damit, dass sich die Teilnehmer gegenseitig verfluchen», sagt Obaidullah Bahir, Universitätsdozent und Aktivist in Kabul. Er selbst versucht, die Energie in Konstruktives zu lenken. «Unsere wöchentlichen Spaces waren bisher sehr tolerant und respektvoll», erzählt er über WhatsApp. «Im Kern versuchen wir darin, uns mit der aktuellen Situation auszusöhnen, uns gleichzeitig aber nicht damit zufrieden zu geben», sagt Bahir. «Wir wollen auch auf Besseres hinarbeiten.»

Sie hätten deshalb begonnen, Taliban-Kämpfer zu kontaktieren und diese in die Spaces einzuladen, um einen nationalen Diskurs zu schaffen. «In einem Space haben dann arbeitende Frauen mit Taliban über ihre Einschränkungen gesprochen», erzählt Bahir. Es habe sich sogar der Sprecher des zuständigen Ministeriums zugeschaltet. Die Taliban reagierten also auf ihre Themen. «Das sind kleine Schritte, aber hoffentlich führt das langfristig zu grösseren Veränderungen.»

Andere Afghanen sehen aktuell keine andere Option als soziale Medien, um sich zu äussern. «Die Taliban kontrollieren mittlerweile die klassischen Medien», sagt Abdullah Chendschani, zuletzt Vize-Friedensminister und davor jahrelang Chef des Fernsehkanals 1TV. «Soziale Medien haben sich als verlässliche Plattformen herausgestellt, auf denen Intellektuelle und Bürger nicht nur ihren Kummer oder ihre Hoffnungen teilen, sondern auch Politik, Religion, Kultur oder Regierungsführung diskutieren können.»

Den aktuellen Drang zum Austausch verstehe er nur zu gut. «Wir fühlen uns moralisch verpflichtet, unsere unangenehme Vergangenheit zu dekonstruieren», sagt Chendschani. Man müsse alles versuchen um zu verstehen, wie es zur aktuellen Situation kam, um Lösungen für die Zukunft zu finden. Über Twitter Spaces könne man die Taliban auch dazu bringen, sich einer öffentlichen Diskussion zu stellen. «Ohne Rechenschaftsmechanismen vor Ort sind diese Plattformen unsere zweitbeste Option.»

Den Taliban selbst ist die Macht der sozialen Medien wohl bewusst. Der Taliban Mohammed Hakmal veranstaltet regelmässig als Co-Host Spaces im Sinne der Islamisten. «Wir wollen jenen, die in Opposition zu unserem System stehen, zufriedenstellende Antworten geben und sie für uns gewinnen», erzählt Hakmal am Telefon. In den Spaces müsse er Frauenrechte oder die Zusammensetzung der Taliban-Regierung diskutieren – Letztere besteht nur aus Männern und fast ausschliesslich aus Paschtunen, Frauenrechte wurden zuletzt deutlich beschnitten. Hakmal ist zufrieden mit seiner Arbeit. «Es gibt Menschen, die sich uns wegen Twitter Spaces angeschlossen haben.»

Afghanen, die Taliban-Spaces beiwohnten sagen, Kritik an den Islamisten sei schwierig. Schnell werde man angegriffen und als Säkularist, westlicher Spion oder Prostituierte beleidigt. Hakmal sagt dazu: «Wir haben Prinzipien. Wir wollen nicht, dass jemand unsere Führer kritisiert, die auch ihre Söhne geopfert haben.» Er akzeptiere «vernünftige Kritik», könne aber «jene, die das System sabotieren wollen, nicht tolerieren, das sage ich ganz klar.»

Gewöhnliche Afghanen hören sich die Taliban-Spaces auch an um herauszufinden, ob sich die Islamisten im Vergleich zu ihrer ersten Schreckensherrschaft 1996 bis 2001 geändert haben. Es kommt aber auch vor, dass Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat sich zuschalten und versuchen, Taliban davon zu überzeugen, dass der Dschihad nicht einfach an der Landesgrenze endet.

Während manche Afghanen darüber lamentieren, dass die Landsleute offenbar zu viel Zeit zum Diskutieren hätten oder die Spaces trotz zahlreicher Teilnehmer immer noch sehr elitär seien, denken andere darüber nach, wie sie die Debatten weiterentwickeln können. «Ich hoffe, dass wir aus Twitter rauswachsen können in einen grösseren Raum», sagt der Akademiker Bahir. Es gebe viele Lücken zwischen allen Afghanen, die es zu überbrücken gelte.

SDA