Flucht über die SkipisteAfghanen ziehen in Hoffnung auf ein neues Leben durch die Alpen
John Leicester und Daniel Cole, AP/tpfi
19.12.2021
Die Route nach Westeuropa führt viele afghanische Migranten quer durch die Berge. Die Etappe ist nicht ungefährlich. Doch die meisten haben schon schwerere Hürden bewältigt. Wer an der Grenze zurückgeschickt wird, versucht es einfach später noch einmal.
John Leicester und Daniel Cole, AP/tpfi
19.12.2021, 17:57
19.12.2021, 21:37
John Leicester und Daniel Cole, AP/tpfi
Als Attentäter die auf Ausreise hoffendenMenschen am Kabuler Flughafen angriffen, kam dieser Fluchtweg für AliResaie nicht mehr infrage. Der 27-Jährige nahm stattdessen den mühsamen Weg über Land. Über den Iran und die Türkei erreichte er Europa. Noch ist er aber nicht am Ziel. Nach drei Monaten voller Strapazen stapft er nun durch knietiefen Schnee Richtung französischer Grenze – mit einem Reporter der Nachrichtenagentur AP im Schlepptau.
Nach der Machtübernahme der Taliban im August hatten viele in der EU mit einer grossen Zahl von Flüchtlingen gerechnet. Der Andrang ist bislang aber überschaubar geblieben. Und am Beispiel der vergleichsweise kurzen Etappe entlang der eisigen Klippen der Alpen wird schnell deutlich, warum: Nur die kühnsten und pfiffigsten unter den Migranten aus Afghanistan sind der Herausforderung gewachsen.
Resaie ist in dem kleinen italienischen Dorf Claviere gestartet. Vorihm, irgendwo zwischen den hohen Gipfeln, liegt die Grenze. Sie ist nicht markiert, es gibt keinen Zaun, der zu überwinden wäre. Aber sie wird rund um die Uhr überwacht, von Polizisten, die mit Wärmebildgeräten nach thermischen Signaturen Ausschau halten. Resaies Begleiter, ein Landsmann mit Narben von einem Attentat, ist bereits einmal erwischt und nach Italien zurückgeschickt worden.
Auf der Flucht vor der Rache der Taliban
Die beiden Afghanen marschieren also nicht einfach drauf los. Regelmässig halten sie inne, um in der Kälte nach Geräuschen zu lauschen. Auf einem Handy haben sie eine Karte, mit deren Hilfe sie überprüfen können, wo sie sich gerade befinden – zumindest solange der Akku noch mitmacht. Zur Stärkung essen sie mit Marmelade gefüllte Croissants, die sie sich in Claviere besorgt haben.
Die Angst vor den Taliban und der Zusammenbruch der nationalen Wirtschaft treiben unzählige Afghanen in die Flucht. Viele überqueren zunächst illegal die Grenze zum Iran – in der Hoffnung, von dort allmählich weiter nach Westen reisen zu können. In der EU hatten bis November mehr als 80’000 Menschen aus dem Land Asyl beantragt. Das entspricht einer Zunahme von 96 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Eine grosse Rolle spielten dabei die Evakuierungsflüge in den Wochen nachdem Fall von Kabul.
Resaie, der aus dem westafghanischen Herat stammt, war im Sommer lauteigenen Angaben nach Kabul gefahren, um einen der Flüge zu erwischen. Doch eine Maschine nach der anderen hob ohne ihn ab. Nach dem Selbstmordanschlag mit Dutzenden Toten am Flughafen der Hauptstadt gab er dann auf. Im Land zu bleiben, war für ihn aber trotzdem keine Option. Weil er für ausländische Hilfsorganisationen gearbeitet habe, wäre er vermutlich von den Taliban getötet worden, sagt er.
Versteckspiel mit Skiläufern
Also nahm der junge Afghane seine Ersparnisse und einiges an geliehenem Geld und machte sich auf eigene Faust auf den Weg. Seinen Druckereibetrieb, seine Freunde und sein bis dahin durchaus komfortables Leben liess er zurück. Im Vergleich zu vielem, was er auf seiner dreimonatigen Reise sonst schon durchmachen musste, stuft er die «Bergtour» nach Frankreich als eher harmlos ein. Als er eine Skipiste kreuzt, wird ihm dennoch bewusst, wie sehr sich seine Lage von der Sorglosigkeit der Urlauber unterscheidet, die dort herunterfahren. Schnell versteckt er sich wieder hinter Bäumen.
Resaie und andere Migranten, die derzeit nach Wegen in die Länder Westeuropas suchen, machen denen, die mit grosser Sicherheit folgen werden, Hoffnung. Das von ihnen gesammelte Wissen über mögliche Hindernisse, ihre Kontakte und ihre sonstigen «Reisetipps» sind in Afghanistan begehrt. Einige derer, die sich an der Grenzüberquerung in den Alpen versuchen, stellen Handy-Karten mit GPS-Koordinaten zur Verfügung, die anderen den Weg weisen.
Das nächste Ziel von Resaie ist der französische Ort Briançon. Sajed und Mortasa, Cousins und beide 16 Jahre alt, sind vor einigen Stunden bereits dort angekommen. Auch sie sind in den Tagen nach dem Fall von Kabul geflüchtet, ebenfalls zunächst durch den Iran und die Türkei. Von dort ging es für sie auf einem überfüllten Boot direkt nach Italien. Die sechstägige Fahrt über das Meer war so strapaziös, dass sie anschliessend zu schwach waren, um aufrecht zu stehen.
«Wir haben schon so viele Berge überquert»
Obwohl sie an der französischen Grenze gefasst wurden, durften Sajed und Mortasa ihren Weg fortsetzen, weil sie noch minderjährig sind. Sieben erwachsene Afghanen, mit denen sie gemeinsam losgezogen waren, wurden zurück nach Italien geschickt.
Sajeds Vater und sein älterer Bruder hatten vor der Machtübernahme der Taliban als Polizisten gearbeitet. Auch sie seien geflüchtet und würden sich vermutlich in Pakistan verstecken, sagt er. Seine Mutter halte sich mit einer Schwester im Iran auf. Sajed selbst will laut eigenen Angaben nach Deutschland. «Vielleicht Dortmund, weil ich den Dortmunder Fussball-Verein mag», sagt er.
Der 26-jährige Abdul Almasai, der Afghanistan schon als Teenager verlassen hat, ist kürzlich gemeinsam mit acht Landsleuten an der französischen Grenze abgewiesen worden. Doch er plant schon seinen nächsten Versuch. «Wir haben schon so viele Berge überquert», sagt er. «Ich muss mich um meine Zukunft kümmern.»
Rückkehr in die Heimat bleibt das grosse Ziel
Hilfskräfte vor Ort sind besorgt darüber, dass Migranten aus Afghanistan, die verschneite Gebirge aus der Heimat kennen, riskantere Routen wählen als Migranten aus Ländern mit wärmerem Klima. «Sie sind selbstbewusst, und manchmal ist es nicht hilfreich, selbstbewusst zu sein», sagt Luca Guglielmetto, der auf italienischer Seite als Freiwilliger in einem Refugium arbeitet, das Migranten mit warmer Kleidung und Schuhen versorgt.
Als es langsam dunkel wird, ist der Akku von Resaies Handy leer. Er und sein Begleiter kämpfen sich aber auch ohne die technische Hilfe weiter durch den Schnee. Und Resaie hat Glück: Anders als viele andere, erreicht er das Ziel gleich beim ersten Versuch. Am nächsten Morgen kann er in einer Flüchtlingsunterkunft in Briançon frühstücken.
Auch Resaie möchte weiter nach Deutschland. Doch zugleich träumt er davon, eines Tages in die Heimat zurückkehren zu können. «Ich hatte ein Auto. Ich hatte einen Job», sagt er. «Ich hatte ein gutes Leben.»