«Die Dämme waren baufällig» Alle Warnrufe ignoriert – jetzt sind über 11'000 Menschen tot

dpa/twei

19.9.2023 - 23:55

Nach der Flut in Libyen: «Wir haben die Leichen unserer Nachbarn gefunden»

Nach der Flut in Libyen: «Wir haben die Leichen unserer Nachbarn gefunden»

STORY: Mit Hoffnung kehrten Ilham al-Thibyani und ihr Mann Hassan Awad in ihr Haus im libyschen Derna zurück, Tage nachdem die Flut weite Teile der Küstenstadt verwüstet hatte. Doch dann wird klar: Ihr Heim ist verwüstet. Ilham al-Thibyani / Einwohnerin von Derna «Ein Lebenstraum, den mein Mann und ich Schritt für Schritt aufgebaut haben. Ich habe meine Kinder hier grossgezogen. Ich war froh, dass die Hochzeit meines Sohnes bevorstand.» Sie fühle sich hilflos und könne nur beten, so sagt sie. Um dem Tod zu entgehen, stieg die Familie auf das Dach ihres Hauses und blieb dort, bis das Wasser zurückging. Aber ihre Nachbarn hatten nicht so viel Glück. Hassan Awad / Einwohner von Derna «Wir haben Leichen von Freunden, Nachbarn und Angehörigen gefunden, ich kann es mir nicht erklären.» Ganze Bezirke von Derna mit einer geschätzten Bevölkerung von mindestens 120.000 Einwohnern wurden weggeschwemmt oder unter braunem Schlamm begraben, nachdem zwei Dämme südlich der Stadt gebrochen waren und Sturzfluten in ein sonst trockenes Flussbett strömten. Staatliche Medien gaben an, in der Stadt seien mindestens 891 Gebäude zerstört worden, der Bürgermeister sagte, 20.000 Menschen seien möglicherweise gestorben.

18.09.2023

Die Warnungen vor einem Bruch der Darna-Dämme im Osten Libyens waren deutlich, gehört wurden sie trotzdem nicht. Sonst wäre die verheerende Opferbilanz nach Sturm «Daniel» wohl anders ausgefallen.

DPA, dpa/twei

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Mehr als 11'300 Tote, über zehntausend weitere Menschen werden noch vermisst: So liest sich die traurige Bilanz der Flutkatastrophe in der libyschen Küstenstadt Darna.
  • Vorwürfe werden laut, die Politik habe Warnungen von Experten ignoriert. Immer wieder hatten diese zuvor auf die baufälligen Dämme aufmerksam gemacht.
  • Der zuständige Staatsanwalt hat bereits Ende vergangener Woche eine umfassende Untersuchung möglicher Versäumnisse angekündigt.

Schon lange hatten Experten darauf hingewiesen, dass die beiden Dämme bei Darna einem starken Hochwasser möglicherweise nicht standhalten könnten. Wiederholt forderten sie Reparaturmassnahmen an den beiden Bauwerken nahe der Küstenstadt im Nordosten Libyens. Doch inmitten der Unruhen und der politischen Zerrissenheit des Landes geschah nichts oder zumindest nicht genug.

«Im Falle einer grossen Überschwemmung werden die Folgen für die Bewohner des Tals und der Stadt katastrophal sein», mahnte noch im vergangenen Jahr Abdelwanis Aschur, Professor für Bauingenieurwesen, in einer Studie. Am 11. September bewahrheiteten sich die Befürchtungen. In den frühen Morgenstunden wurden die Menschen in Darna von lauten Knallgeräuschen geweckt, bevor die Fluten ihre Stadt überschwemmten. Die beiden Dämme waren gebrochen.

Traurige Bilanz: Mehr als 11'000 Tote, 10'000 Vermisste

Verheerende Wassermassen stürzten in die Stadt, spülten ganze Stadtteile ins Meer. In Sekunden rissen die Fluten Häuser weg, Strassen und Brücken. Eine Woche danach lag die Zahl der Toten laut Libyschem Roten Halbmond und UNO bei mehr als 11'300. Mehr als 10'000 Menschen wurden noch vermisst.

Die Dämme Abu Mansur und Darna wurden in den 1970er-Jahren von einer jugoslawischen Baufirma oberhalb des Darna-Tals gebaut, das die Stadt teilt. Die Abu-Mansur-Staumauer, 14 Kilometer von dem Ort entfernt, war 74 Meter hoch und konnte bis zu 22,5 Millionen Kubikmeter Wasser stauen. Der Darna-Damm, auch Belad genannt, war weit näher an der Stadt errichtet und auf 1,5 Millionen Kubikmeter Wasser ausgelegt.

Rettungsteams suchen in Darna nach Opfern. Mehr als 10'000 Menschen werden noch vermisst.
Rettungsteams suchen in Darna nach Opfern. Mehr als 10'000 Menschen werden noch vermisst.
Bild: Keystone/AP/Yousef Murad

Die beiden Konstruktionen aus Lehm, Steinen und Erde sollten die Stadt vor Sturzfluten schützen, die in dieser Gegend nicht selten sind. Das hinter den Dämmen gesammelte Wasser wurde für die Bewässerung flussabwärts gelegener Felder genutzt.

Experte über Dämme in Darna: «Sie waren baufällig»

Doch der Zahn der Zeit nagte an den Bauwerken. «Beide Dämme waren seit vielen Jahren nicht mehr gewartet worden, obwohl die Stadt in der Vergangenheit wiederholt von Überschwemmungen getroffen wurde», sagt Saleh Emhanna von der Universität Adschdabia. «Sie waren baufällig.»

Bei einem starken Sturm 1986 seien sie schwer beschädigt worden, und rund ein Jahrzehnt später seien bei einer von der Regierung beauftragten Bestandsaufnahme Risse und Spalten festgestellt worden, erklärte Generalstaatsanwalt Al-Sedik al-Sur nach dem Unglück. 2007 wurde das türkische Unternehmen Arsel mit Wartungsarbeiten beauftragt. Laut Website der Firma wurde diese im November 2012 abgeschlossen.

Nach dem Sturz von Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 stürzten derweil rivalisierende Milizen das nordafrikanische Land ins Chaos. Mit einem Bürgerkrieg zerfiel es in zwei Machtbereiche, mit einer international anerkannten Regierung in Tripolis und einer zweiten, konkurrierenden im Osten – dort, wo auch Darna liegt.

Frühere Regierungen versäumten Renovierungsarbeiten

2021 deckte eine staatliche Rechnungsprüfungsbehörde auf, dass 2012 und 2013 mehr als zwei Millionen Dollar für die Wartung der Dämme bereitgestellt worden, aber keine entsprechenden Arbeiten erfolgt seien. Staatsanwalt Al-Sur kündigte Ende vergangener Woche eine umfassende Untersuchung möglicher Versäumnisse an: «Ich versichere den Bürgern, dass die Staatsanwaltschaft gegen jeden, der Fehler begangen hat oder nachlässig war, entschieden vorgehen, ein Strafverfahren einleiten und ihn vor Gericht stellen wird», sagt er.

Die Flutkatastrophe in Libyen hinterliess eine Schneise der Zerstörung.
Die Flutkatastrophe in Libyen hinterliess eine Schneise der Zerstörung.
Bild: Keystone/AP/Jamal Alkomaty

Die Ermittlungen richteten sich sowohl auf die lokalen Behörden in Darna als auch auf mögliche Versäumnisse früherer Regierungen, erklärte Al-Sur. Die im Osten Libyens ansässige Regierung suspendierte derweil den Bürgermeister von Darna. Während der östliche Teil des Landes unter Kontrolle dieser Regierung steht, kontrolliert die international anerkannte in der Hauptstadt Tripolis die meisten staatlichen Mittel und ist für die Aufsicht von Infrastrukturprojekten zuständig.

Milizen in Libyen schaffen komplexe politische Lage

Menschenrechtler und Aktivisten sind skeptisch, was die Aufklärung in einem zerrissenen und von Milizen beherrschten Land angeht und fordern eine internationale Untersuchung. Schon bisher habe das «räuberische» Verhalten dieser Gruppen und Milizen zu einer «Veruntreuung libyscher Staatsgelder und zum Verfall der Institutionen und der Infrastruktur» geführt, hiess es auch im Bericht einer UNO-Expertengruppe zu Libyen.

Vernachlässigung und Korruption gelten in dem an Erdöl und Erdgas reichen Land als weit verbreitet. Im vergangenen Jahr lag Libyen auf dem Korruptionsindex von Transparency International auf Rang 171 von 180.

Eine Online-Petition, die in den vergangenen Tagen von Hunderten Menschen, darunter libyschen Rechtsgruppen und Nichtregierungsorganisationen, unterzeichnet wurde, unterstreicht jetzt den Ruf nach einer übergreifenden Untersuchung.

Der Kern der Forderung: Ein unabhängiges internationales Komitee soll die Ursachen der Katastrophe aufdecken und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.

Hassan trauert um seine Familie

Hassan trauert um seine Familie

Der 69-jährige Hassan Kassar kam bei der Flutkatastrophe in Derna mit dem Leben davon, weil er zum Zeitpunkt des Dammbruchs nicht zuhause war. Als er heimkehrte, musste er feststellen, dass seine vier Kinder in den Fluten umgekommen waren.

19.09.2023