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Zivilisten berichten vom Stahlwerk in Mariupol «Es war furchtbar, überall war Schimmel»
Von Elena Becatoros, AP
9.5.2022 - 10:53
Manche hatten mehr als zwei Monate in den Tunnelanlagen ausgeharrt. Nun sind die letzten Zivilisten aus dem Stahlwerk in Mariupol gerettet worden. Sie berichten von schrecklichen Bedingungen.
Blass und ausgezehrt sehen die Menschen aus. Zehn Busse kommen im Schutze der Dunkelheit am späten Sonntagabend auf den verlassenen Strassen von Saporischschja zum Stehen, an Bord sind 174 Evakuierte aus dem Grossraum Mariupol. Unter ihnen sind auch die letzten Zivilist*innen, die in den Bunkern unter dem riesigen Stahlwerk Azovstal im zerstörten Mariupol ausgeharrt hatten, wie sowohl die ukrainische als auch russische Seite bestätigen.
In dem umkämpften Werk halten sich Schätzungen zufolge 2000 ukrainische Kämpfer auf, die den russischen Angriffen offenbar noch ein letztes Mal standzuhalten versuchen.
Die ermatteten Zivilist*innen haben es nun nach Saporischschja geschafft, der ersten Grossstadt jenseits der Frontlinien unter ukrainischer Kontrolle. Die Überlebenden berichten von unablässigem Beschuss, schwindenden Lebensmittelreserven, Schimmel überall – und von Handdesinfektionsmittel, das sie als Heizmaterial zum Kochen genutzt hätten.
«Überall war Schimmel»
«Es war furchtbar in den Bunkern», sagt die 69 Jahre alte Ljubow Andropowa, die seit dem 10. März in Azovstal ausharrte. «Wasser lief die Decken herunter. Überall war Schimmel. Wir sorgten uns um die Kinder, um ihre Lungen.» Das russische Bombardement habe einfach nicht aufgehört, und es habe Furcht geherrscht, «dass unser Bunker einstürzt», sagt Andropowa. «Alles bebte, wir sind nicht rausgegangen.»
Das Stahlwerk ist der einzige Teil von Mariupol, der nicht unter russischer Kontrolle steht. Dank seinem Labyrinth aus Tunneln und Bunkern in unterirdischer Tiefe hielten viele Zivilist*innen die Anlage für den sichersten Ort, um dem anhaltenden Beschuss zu entgehen.
Am 27. Februar ging auch Dmytro Swijdakow mit seiner Frau und ihre zwölfjährige Tochter in die Bunker, also wenige Tage nach dem Beginn des Krieges am 24. Februar. Es sollte mehr als zwei Monate dauern, bis sie wieder draussen sein würden.
Mit rund 50 bis 60 Menschen kauerte die Familie in Schutzräumen. Die ersten anderthalb Monate seien erträglich gewesen, sagt Swijdakow. Doch dann sei der Beschuss schlimmer geworden. Eine Lagerstätte für Nahrungsmittel sei in die Luft gesprengt worden. Ihm und anderen sei nichts anderes übrig geblieben, als plündernd durch die Anlage zu streifen.
So hätten sie die Spinde von Fabrikarbeiten nach Essbarem durchsucht. Auch Heizmittel zum Kochen seien knapp gewesen, doch dann hätten sie entdeckt, dass wegen Corona in rauen Mengen vorhandene Handdesinfektionsmittel ein guter Ersatz sei.
«Wir hätten es sonst nicht geschafft»
«Was man nicht alles tun kann, wenn man nichts hat!», ruft Swijdakow, während er auf einen Bus wartet, der die aus Azovstal Evakuierten zu vorläufigen Unterkünften in Saporischschja bringen soll. Jehor, ein Arbeiter in dem Stahlwerk, hatte mit seiner Frau, ihren zwei Söhnen und ihrem Hund Zuflucht in einem der Bunker gesucht. Als das Essen zur Neige gegangen sei, hätten Soldaten geholfen, die die Anlage verteidigten. «Wir hätten es sonst nicht geschafft», sagt Jehor, der nur seinen Nachnamen nennen möchte.
«Ich weiss nicht, wie lange wir hätten überleben können, aber sicherlich hätten wir nicht bis heute überlebt.» In den letzten Tagen hätten sie nur Pasta, Wasser und ein paar Gewürze gehabt – gerade genug für eine Suppe pro Tag.
Ins Stahlwerk sei er mit seiner Familie am 1. März gegangen, erzählt Jehor. Kurz zuvor sei er knapp einem Bombenangriff entgangen, als er seinen Hund Gassi geführt habe.
Trotz grosser Verwüstungen in der vor gar nicht langer Zeit blühenden Hafenstadt Mariupol wollen einige der 51 aus Azovstal evakuierten Zivilist*innen in der Stadt bleiben, wie UNO-Mitarbeitende berichten. Zwei Menschen – ein Mann und eine Frau – seien von den russischen Truppen festgenommen worden. Die Frau hätten sie verdächtigt, Medizinerin beim ukrainischen Militär zu sein. Sie sei mit ihrer vierjährigen Tochter unterwegs. Mutter und Kind seien getrennt worden, die Kleine habe es dann noch mit dem Rest der Evakuierten nach Saporischschja geschafft.
Doch Hunderte weitere, die sich dem Evakuierungskonvoi nur zu gerne angeschlossen hätten, mussten zurückbleiben, da Russland und die Ukraine sich nicht auf deren Evakuierung einigen konnten. «Es war ziemlich herzereissend, sie da warten zu sehen und dass sie sich uns nicht anschliessen konnten, sagte die UNO-Nothilfekoordinatorin für die Ukraine, Osnat Lubrani. Innerhalb von zehn Tagen sei man in der Lage gewesen, insgesamt 600 Menschen im Rahmen einer sehr komplexen, hochriskanten, heiklen Aktion sicheres Geleit zu verschaffen. Die Vereinten Nationen hofften, noch mehr Menschen in Sicherheit bringen zu können.