Rassismus-Interview «Auf einer Skala von eins bis zehn bekommen die Schweizer eine neun»

Von Philipp Dahm

24.6.2020

Richard Broadnax ist Amerikaner, der in der Schweiz seine Liebe fand. Der 71-jährige Gospelsänger sprach mit «Bluewin» über Rassismus in den USA, die Unterschiede zur Schweiz, der er ein gutes Zeugnis ausstellt, und den Tod seiner Schwester.

Nachdem in den vergangenen Wochen mit George Floyd und Rayshard Brooks zwei Schwarze durch US-Polizisten getötet worden sind, hat die «Black Lives Matter»-Bewegung in den Vereinigten Staaten Fahrt aufgenommen. Richard Broadnax weiss aus eigener Erfahrung, wie rassistisch die USA sind.

Der Gospelsänger wurde 1948 in Camden im US-Bundesstaat Arkansas geboren. 1995 lernte er in Zürich seine heutige Frau kennen: Der 71-Jährige vergleicht seine alte und seine neue Heimat – und ist froh, dass «endlich jemand zuhört», als es um den fragwürdigen Tod seiner Schwester geht.

Herr Broadnax, war Rassismus schon in ihrer Kindheit ein Thema?

Natürlich, Schwarze durften zum Beispiel nicht mit Weissen an einem Tisch sitzen. Wir durften nicht mal in ihre Restaurants gehen. Die Haut meiner Tante war aber so hell, dass niemand sie als Schwarze erkannt hat. Sie konnte sich also immer in die Restaurants der Weissen setzen, und wir haben ihr dann zugewinkt.

Richard Broadnax im Gespräch mit «Bluewin»-Autor Philipp Dahm.
Richard Broadnax im Gespräch mit «Bluewin»-Autor Philipp Dahm.
Bild: The RSA 1st / Ronald Stocker

Wie haben Sie Rassismus persönlich zu spüren bekommen?

Ich habe so viel durchmachen müssen, das können Sie sich nicht vorstellen. Wir lebten auf dem Land und als ich acht war, haben mich die Besitzer eines Ladens angestellt, um Autos zu betanken. Ich habe immer wieder gehört: ‹Kein Nigger betankt mein Auto!›

Hat Sie jemand verteidigt?

Die Besitzer haben stets zu mir gehalten. Die Frau hat mich geliebt: Sie hat die Person in mir gesehen, nicht die schwarze Person.

Wie verlief Ihre Jugend?

Als ich 18 war, fing ich an, für ein Bestattungsunternehmen zu arbeiten. Ich war für die Blumen zuständig, aber ich musste aus der Kirche raus sein, bevor die Weissen zur Zeremonie kamen und durfte nicht eher wieder herein, als alle gegangen waren.

Sie haben Konsequenzen daraus gezogen …

Ich wollte nicht mehr auf US-Boden leben und beschloss, in Europa zu bleiben. Ich kam als Soldat hierher, war in Deutschland stationiert und lernte 1990 Mitglieder der Jackson Singers kennen. Die haben mich vom Fleck weg engagiert und ich habe sechs Jahre mit ihnen zusammengearbeitet.

Richard Broadnax wuchs mit seinen vier Geschwistern in Arkansas auf.
Richard Broadnax wuchs mit seinen vier Geschwistern in Arkansas auf.
Bild: Richard Broadnax

Dann haben Sie Ihre Schweizer Frau getroffen.

Vor 25 Jahren bei einem Konzert in einer Kirche am Stauffacher in Zürich. Ich war eine Woche in den USA gewesen, um meinen Vater zu beerdigen, kam zurück und schloss mich wieder der Tour an. An jenem Abend habe ich ‹I Got Shoes› gesungen, habe mich wirklich in den Song fallenlassen und bin sogar ins Publikum gegangen. Normalerweise gehst du nicht von der Bühne. An jenem Tag sass meine Frau im Publikum.

Hat sie Sie nach dem Konzert einfach angesprochen?

Sie wusste nicht, wie sie mich kontaktieren kann, aber weil sie wusste, dass unser nächstes Konzert in der Tonhalle St. Gallen war, schickte sie einen Brief dorthin. Sie schrieb, sie habe das Konzert von allen vier Männern und Frauen genossen, aber ich hätte ‹great vibrations› versprüht.

Broadnax mit seiner Band The Zion Gospel Singers auf der Bühne.
Broadnax mit seiner Band The Zion Gospel Singers auf der Bühne.
Bild: Richard Broadnax

Wie haben Sie reagiert?

Ich ging zu einer Handschriftanalyse, um herauszufinden, wie seriös das gemeint ist. Sie hat den Brief zwar getippt, aber die Adresse auf dem Umschlag selbst geschrieben. Er hat das angesehen und sagte: ‹Ruf Sie an, sie meint es ernst!› Und ich habe sie angerufen – und seither sind wir zusammen.

Sind Sie auch zusammen in die USA gereist?

Natürlich, auch weil sie mehr über die Geschichten der Schwarzen wissen wollte. Ich habe ihr unsere Central High School gezeigt, in die die schwarzen Kinder von der Nationalgarde begleitet werden mussten und trotzdem noch angespuckt wurden.

Für Sie gibt es noch ein schlimmeres, rassistisches Ereignis. Worum geht es?

Es passierte am 2. April 2003 in der Kleinstadt Camden [im US-Bundesstaat] Arkansas. Meine Schwester war Verkehrsleiterin auf dem State Highway und hat eine Fahrbahn geschlossen, die sie mit Pylonen markiert hat. Sie ging gerade in ihrer gelben Warnweste um ihren grossen, roten Truck herum, als er kam. Er hat sie überfahren und 60 Meter mitgeschleift. Als der Lastwagen zum Stehen kam, lag sie laut Unfallbericht darunter. Sie hat fünf Kinder. Es war der traurigste Tag meines Lebens!

Broadnax hält die Ausgabe der «Arkansas Sun» vom Folgetag hoch. Er zeigt weitere Zeitungsausschnitte, Unfallfotos, Kopien der Zeugenaussagen und Berichte. Der Lenker des Lastwagens beschreibt in wenigen Worten, die Sonne habe ihn geblendet, er habe das Opfer darum nicht gesehen. Hinter dem Lastwagen fuhr zufälligerweise ein Polizeiwagen. Der Bericht des Beamten ist sparsam: Er wiederholt die knappe Schilderung des Lenkers, trifft selbst aber keine Aussagen zum Sonnenstand, der Geschwindigkeit des Lastwagens oder zum Unfallhergang. «Ich habe die Stelle gefunden, an der sie der Lastwagen überfahren hat und ich konnte … » Die Stimme des Mannes bricht. «Ich konnte nicht weggehen.»

Das Unfallfahrzeug von Etna Jean Harris.
Das Unfallfahrzeug von Etna Jean Harris.
Bild: Richard Broadnax

Was war an dem Unfall faul?

Wie sich später herausstellte, war der Lenker zuvor beim Augenarzt, der darauf bestanden habe, dass er nicht fährt. Das hat er der Polizei nie erzählt. Er ist trotzdem gefahren.

Und dann hatten Sie ein Aha-Erlebnis, als sie zur Beerdigung in die USA geflogen sind?

Ja, ich bin zurückgereist und mache also Halt bei diesem Steakhouse, dass ziemlich voll ist. Ich sitze hier draussen auf der Veranda. Eine Lady mit ihrer etwa neunjährigen Tochter setzt sich an den Nebentisch und als ich bestelle, fällt ihr mein Akzent auf. «Stimmt, ich bin hier geboren und aufgewachsen, lebe aber in Zürich in der Schweiz», erzähle ich ihr. «Vor einer Woche wurde meine Schwester getötet.» Es stellte sich heraus, dass sie den Fall kennt: «Mein Mann ist Polizist.» Und jener Polizist hat am Unfallort Bilder gemacht, obwohl uns gesagt worden ist, es existieren keine. Sie hat mir gesagt: «Das ist eine Lüge. Mein Mann hat Bilder gemacht. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen». So haben sie alles vertuscht.

Die Polizei hat den Unfall also nicht richtig untersucht?

Meine Schwester fuhr einen roten Truck mit einem Blinklicht. Die Fahrbahn war ordentlich abgesperrt. Die Polizei lässt die Aussage mit der blendenden Sonne einfach stehen. Die Firma, für die der Lastwagen fuhr, bekommt das Ergebnis der Blutuntersuchung, aber wir nicht. Der Lenker taucht in Chicago unter, aber die Behörden tun nichts.

Glauben Sie, es wäre anders gelaufen, wenn das Opfer eine weisse Frau und der Lenker ein schwarzer Mann wäre?

Wenn ein Schwarzer eine weisse Frau überfahren hätte, nachdem dessen Augen behandelt worden wären, wäre er noch am selben Tag ins Gefängnis gegangen. Sie haben den Tod meiner Schwester behandelt wie einen Wildunfall. Als hätte man ein Reh getötet.

Haben Sie versucht, sich Hilfe zu holen?

Ich habe die NAACP kontaktiert, eine Organisation, die sich für die Rechte von Schwarzen einsetzt. Es kam keine Antwort. Ich habe das Martin Luther King Centre angeschrieben. Keine Antwort. Niemand kam zu ihrer Hilfe.

Erna Jean Harris Beerdigung in Camden, Arkansas.
Erna Jean Harris Beerdigung in Camden, Arkansas.
Bild: Richard Broadnax

Haben diese Vorfälle ihr Verhältnis zur alten Heimat verändert?

Ich fahre noch alle fünf oder sechs Jahre nach Arkansas. Öfter geht es nicht: Alles erinnert mich an meine Schwester. Auch ihren Kindern blutet das Herz.

Wie ist es ihnen ergangen?

Sie sind erwachsen und haben selbst Kinder. Es gab ein Familientreffen, sie haben sich einen Anwalt genommen und der sagte, sie würden den Fall sicher gewinnen. Den Hinterbliebenen wurden schliesslich 500'000 Dollar angeboten, wenn sie die Sache nicht weiter verfolgen. Sollten sie nicht annehmen, würde man einfach so lange Revision einlegen, bis ihnen der Atem ausgeht.

Haben Ihre Nichten und Neffen den Vergleich angenommen?

Die Familie hatte kein Geld – sie hatte keine Wahl. Die Tochter, die die Entscheidung treffen sollte, hat selbst Kinder und hat die Summe angenommen. Bis heute spricht sie nicht mehr darüber, aber ich werde es tun, bis jemand zuhört. Ich habe das Geld nicht gewollt. Ich wollte Gerechtigkeit.

Was wissen Sie über den Todeslenker?

Ich habe ihn via Google gefunden. Er starb 2010. Es hat mich erleichtert, dass er nicht mehr auf dieser Welt ist.

Was für Rassismus haben Sie nach ihrer ‹Flucht› in der Schweiz erlebt?
In der Schweiz hatte ich nie grössere Probleme. Auf einer Skala von eins bis zehn bekommen die Schweizer eine neun. Sie haben mich unterstützt, meine Musik. Sie sind mir bis zum heutigen Tag mit Liebe begegnet.

Gab es hier je Probleme mit der Polizei?
Vor zwei Jahren war ich in Uster, bin falsch abgebogen und es stand direkt ein Polizeiwagen da. Ich war natürlich schuldig. Und das erste, was sie gesagt haben, war: ‹Keine Sorge, wie erschiessen Sie nicht.›

Broadnax (Mitte) singt auch in der Goldtooth Blues Band.
Broadnax (Mitte) singt auch in der Goldtooth Blues Band.
Bild: Richard Broadnax

Wie soll man das verstehen?

Sie haben durchblicken lassen, dass sie wissen, was in Amerika abgeht. Ich hätte nicht gedacht, dass sie auf mich schiessen werden, aber da wusste ich, dass sie mich wie jede andere Person behandeln werden.

Sind Sie hier schon mal öffentlich angepöbelt worden?

Ich wartete vor etwa vier Jahren in Zürich am Stauffacher, als plötzlich eine Frau kam, mich auf die Brust schlug und ‹Neger› rief. Alle um mich herum sahen mich an und ihre Blicke sagten: ‹Die ist geisteskrank!› Meine Frau sagte später, ich hätte die Polizei rufen sollen.

Gab es andere Vorfälle?

Letztes Jahr gab es einen Vorfall, aber da ging es nicht um mich. Es waren zwei sehr alte Damen um die 80 Jahre. Sie warteten auf den Bus und eine Frau, die wohl ihre Medikamente nicht genommen hatte, belästigte sie. Die alten Damen wurden sehr nervös, und da habe ich eingegriffen. Ich sagte ihr, so gehe es nicht. Sie hat geschrien: ‹Scheisse, was? Neger!!!› Sie hätte mich alles Mögliche nennen können, ich kann das vertragen. Aber dann hat sie meinen Hund getreten. Das ging dann noch sechs Minuten mit ihr – im Zürcher Hauptbahnhof – ohne dass jemand gekommen wäre.

Glauben Sie, dass der Protest gegen Rassismus in den USA diesmal auch Folgen haben wird?

Ich glaube schon, dass es grössere Veränderungen geben wird, wenn sich etwas am 3. November [bei den US-Präsidentschaftswahlen] im Weissen Haus ändert.

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