Türkei-Experten über Erdogan Der «autoritäre Möchtegern-Kalif» und das Diplomaten-Debakel

Von Philipp Dahm

26.10.2021

Erratische Politik: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im Oktober 2021 in Istanbul.
Erratische Politik: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im Oktober 2021 in Istanbul.
Bild: Keystone

Die Ausweisung von zehn westlichen Botschaftern ist zwar vom Tisch, doch es bleiben Fragen. Was sind die Hintergründe? Wie geht es mit Erdogans Türkei weiter? Zwei Experten aus Bern und Zürich klären auf.

Von Philipp Dahm

Nachdem zehn Staaten gegen die Inhaftierung von Osman Kavala in der Türkei protestiert hatten, reagierte Ankara zuerst gereizt: Präsident Recep Tayyip Erdogan hat angekündigt, wegen der Sache die Botschafter der USA, Kanadas, Neuseelands, Deutschlands, Frankreichs, der Niederlande, Dänemarks, Finnlands, Norwegen und Schwedens auszuweisen zu lassen.

Einen Diplomaten zur «Persona non grata» zu erklären, ist auf zwischenstaatlichem Niveau ein ernster Vorgang: Nachdem die Botschafter via Twitter versichert haben, sich nicht in innere Angelegenheiten einmischen zu wollen, ruderte Ankara zurück und nahm Abstand von der Ausweisung.

Zur Person
Bild: University of Newcastle

Professor Doktor Hans-Lukas Kieser ist Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit insbesondere der osmanischen und nachosmanischen Welt an der Universität Zürich und Autor mehrerer Fachbücher.

Dennoch bleiben Fragen: Sucht der türkische Präsident die Konfrontation mit dem Westen? Was sind die Hintergründe? blue News hat nachgehakt: Hans-Lukas Kieser von der Universität Zürich und Christoph Ramm von der Universität Bern kennen die Antworten.

Zur Person 
Bild: Uni BE

Doktor Christoph Ramm ist Mitarbeiter am Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie der Universität Bern und leitet dort den Türkischunterricht.

Warum haben sich die zehn Staaten so für Osman Kavala eingesetzt?

Ramm: Osman Kavala ist eine Symbolfigur für die Repression im zunehmend autoritärer werdenden Präsidialsystem der letzten Jahre Er steht für eine liberale, offene Bürgergesellschaft und ist damit dem türkischen Präsidenten mit seinem zentralistischen Politikmodell ein Dorn im Auge.

Kieser: Zum einen ist er seit Jahren eine – auch im Westen – bekannte Person, die sich mit ihren Projekten innovativ für Diversität, Aufarbeitung der Vergangenheit oder Kultur allgemein einsetzt. Er hat ein sehr positives Renommee. Zum anderen gibt es einen juristischen Grund, der viel gewichtiger ist: Er ist verhaftet worden, ohne dass etwas gegen ihn vorliegt. Der Fall zieht sich bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Es ist kristallklar, dass es keinen Grund gibt, diesen Mann in Haft zu belassen. Nach vier Jahren ungerechtfertigter Haft steht der Westen unter Zugzwang.

Warum hat Ankara zuerst so scharf auf den Fall reagiert?

Ramm: Eigentlich sind solche Interventionen westlicher Botschafter ja nichts Neues: In der Vergangenheit sind zum Beispiel die Menschenrechte regelmässig offen thematisiert worden. Das hat auch bei der Vorgängerregierung von Erdogan immer wieder zu Konflikten und nationalistischen Kampagnen geführt. Es ist also nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist die Dimension, die das Ganze angenommen hatte.

Kieser: Es ist die Überempfindlichkeit gegenüber Mahnungen von aussen, obwohl mit dem Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs etwas vorliegt, das Ankara zu akzeptieren grundsätzlich unterschrieben hat. Die Situation hat eine neue Dimension: Zehn Botschafter eigentlich befreundeter Staaten auf einmal zu personae non gratae zu erklären, das hat man noch nie gesehen.

Demonstranten halten im Oktober 2020 bei einer Mahnwache des PEN-Zentrums vor der Türkischen Botschaft ein Bild des türkischen Verlegers und Kulturmäzen Osman Kavala in die Höhe.
Demonstranten halten im Oktober 2020 bei einer Mahnwache des PEN-Zentrums vor der Türkischen Botschaft ein Bild des türkischen Verlegers und Kulturmäzen Osman Kavala in die Höhe.
KEYSTONE

Gut, jetzt wurde die Massnahme ja auch zurückgenommen ...

Kieser: Man muss das im Zusammenhang mit der Entwicklung der letzten Jahre hin zu einem autoritären Möchtegern-Kalifen mit einem neo-osmanischen Selbstverständnis verstehen. Das politische System wurde auf eine Person namens Erdogan ausgerichtet, die alles andere als ruhig und sicher regiert. Die Wirtschaft ist in grössten Schwierigkeiten, die Arbeitslosigkeit ist wesentlich höher, als offiziell angegeben und auch die Zahl der Covid-Toten dürfte doppelt so gross oder noch höher sein. Es herrscht Misere. Daher sinken die Zustimmungswerte und er kämpft um sein politisches Überleben. Wie andere Autokraten, lebt er davon, die Gesellschaft zu spalten und auf die Unterstützung durch eine grosse Minderheit zu setzen. Diese Minderheit ist jetzt auch kleiner geworden. Für sie – seine islamistisch-nationalistische Klientel – markiert er den starken Führer.

Feurig: Anhänger feiern im Juni 2018 in Istanbul Erdogans Wahlsieg.
Feurig: Anhänger feiern im Juni 2018 in Istanbul Erdogans Wahlsieg.
KEYSTONE

Welche Bedeutung hat das Scharmützel für das Verhältnis zwischen der Türkei und dem Westen?

Ramm: Worauf das letztlich hinauslaufen wird, ist schwer zu sagen. Es hing ja auch davon ab, ob diese Massnahme tatsächlich vollzogen wird. In der Vergangenheit hatte es schon oft solche Ankündigungen gegeben, die dann abgemildert oder gar nicht umgesetzt worden sind. Allerdings muss man bei der jetzigen Situation in der Türkei und der Persönlichkeit Erdogans sagen, dass nicht abzusehen ist, in welche Richtung es gehen wird. Es kann zu einem Abwenden von bisherigen Bündnispartnern oder einer weiteren Isolierung in der Welt führen. Aber ich habe die Massnahmen für sehr extrem und irrational gehalten – selbst für Erdogans Standard.

Kieser: Es ist das Ende des Träumens und des Schönredens. Sicher gibt es wichtige Kräfte, die auf Deeskalation setzen – einige aus berechtigter Sorge, andere nach dem bequemen Motto: «Das war ein Ausbruch, Schwamm drüber.» Irgendwann funktioniert Appeasement aber nicht mehr und die Haltung kippt – man denke nur an Saddam Hussein. Gerade US-Präsident Joe Biden ist hier sehr viel kritischer. Es ist aber auch äusserst heikel zu hoffen, härtere Massnahmen könnten Erdogan derart in die Bredouille bringen, dass er abtreten muss und damit Raum für demokratische Veränderung entsteht.

Wie meinen Sie das?

Kieser: Diktatoren treten nicht ab, sondern weichen nur resolutem und koordiniertem Druck. Nach bisheriger Erfahrung denke ich, die betroffenen westlichen Staaten werden versuchen, den Konflikt fürs Erste zu schlichten. Das haben sie jetzt eben auch getan mit Hinweis auf das Wiener Protokoll. Das ermöglicht es Erdogan, sich seinem Publikum als unbeugsam und die Botschafter – fälschlich – als reumütig darzustellen. Entscheidend in diesem Fall ist, ob Kavala demnächst frei kommt oder nicht.

Treffen zwischen der EU und der Türkei im März 2018 in Bulgarien: (von links) Präsident Erdogan, Bulgariens damaliger Premier Bojko Borissow, der Ex-Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk und der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
Treffen zwischen der EU und der Türkei im März 2018 in Bulgarien: (von links) Präsident Erdogan, Bulgariens damaliger Premier Bojko Borissow, der Ex-Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk und der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
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Haben Sie Anhaltspunkte für Appeasement gegenüber Erdogan?

Kieser: Vor der Abstimmung über das neue Präsidialsystem hat Erdogan Adolf Hitler als positives Beispiel dafür genommen, wie effektiv ein Präsident handeln kann. Diesen totalen Tabubruch des Nato-Verbündeten hat man runtergeschluckt, ebenso seine Begünstigung dschihadistischer Extremisten und seine Besetzung syrischen Territoriums. Ob das weiterhin so geht, bezweifle ich zwar irgendwie, aber einige werden es versuchen. Allen voran Deutschland, das die Türkei bisher nie konstruktiv zu konfrontieren wusste. Dabei braucht es gelegentlich die Einsicht, dass es leider schlechter werden muss, bevor es besser werden kann.

Wie haben die Märkte reagiert?

Ramm: Sie haben bereits vor dieser Kritik am Freitag mit Kurseinbrüchen reagiert, was aber mehr mit der Wirtschaftspolitik zusammenhängt. Erdogan fährt einen erratischen Kurs: Er drängt trotz starker Inflation auf Zinssenkungen – in einem Moment, in dem nach herrschender wirtschaftlicher Meinung  Erhöhungen fällig wären.

Kieser: Man sieht es an der Abwertung der Lira. Der Franken hat jetzt die magische Grenze von 10 Lira geknackt. Ein Franken kostet ungefähr 10,5 Lira – und begonnen hat es mit Parität von 1:1. Für die Wirtschaft ist das dramatisch. Natürlich hat sich Präsident Erdogan schon von Staaten wie Katar, China oder Russland ökonomisch unter die Arme greifen lassen, aber das ist auf die Dauer ein Vabanquespiel, und es sieht so aus, als wenn das Kartenhaus zusammenbrechen kann. Die bange Frage ist dann nur noch, ob blutig oder unblutig.

Geldwechslerin in Istanbul am 14. Oktober: Der Wert der Lira fällt und fällt.
Geldwechslerin in Istanbul am 14. Oktober: Der Wert der Lira fällt und fällt.
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Die Lira fällt und fällt, die Inflation liegt bei 20 Prozent: Wie gefährlich ist diese Entwicklung für die innere Stabilität der Türkei?

Kieser: Der Unterschied zu den USA, wo wir ja auch einen «schwierigen» Präsidenten hatten, ist, dass es in der Türkei diese demokratischen Strukturen nicht gibt, die Angriffe auf die Demokratie – wie jenen quasi-Putschversuch im Januar 2021 – noch auffangen können. Erdogan hat die Polarisierung der Gesellschaft systematisch betrieben und auch Milizen systematisch bewaffnet. Man muss sich bewusst sein, dass in der Geschichte der Türkei Machthaber Krisen immer auch als Chance gesehen haben, um keine Rechenschaft ablegen zu müssen und Sonder-Massnahmen ergreifen zu können. Die massive Krise könnte ein Auftakt zu bürgerkriegsähnlichen Szenen wie in den 1970ern sein, wenn Erdogan so autoritär weiterfährt.

Ramm: Die Türkei ist ja schon seit Jahren eine extrem polarisierte Gesellschaft. Es war nur etwas mehr als die Hälfte, die Erdogan unterstützt hat. Die anderen, nennen wir sie die 49 Prozent, sind massive Gegner*innen. Die AKP hat ja auch immer wieder populistische und aggressive Kampagnen gegen die Opposition gefahren, um einzelne Strömungen zu denunzieren und zu delegitimieren. Er könnte wieder zu diesem Mittel greifen und etwa die kurdische Bewegung angreifen, einzelne Oppositionelle inhaftieren oder weitere Represssionskampagnen lancieren, um diese Polarisierung aufrechtzuerhalten. In der Vergangenheit hat ihm das genutzt, um die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren.

Präsident Erdogan feiert im Juli 2019 die Gefallenen des gescheiterten Putschversuchs von 2016.
Präsident Erdogan feiert im Juli 2019 die Gefallenen des gescheiterten Putschversuchs von 2016.
KEYSTONE

Wollte Präsident Erdogan den Fall Kavala nutzen, um von der innenpolitischen Lage abzulenken?

Ramm: Ja, und das ist ziemlich durchschaubar, alleine schon wegen der zeitlichen Koinzidenz. Aber es wird schwieriger, Erdogan einzuschätzen: Es wird schon länger diskutiert, inwieweit er sich in seinem Präsidentenpalast inzwischen von der Realität entkoppelt hat. Er reagiert eigentlich nur noch mit seinen alten politischen Reflexen. Für ihn war Aussenpolitik schon immer Innenpolitik, um die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren. Auch jetzt stellt sich wieder die Frage, ob er die Diplomatie völlig aussen vor lässt und nur noch auf Eskalation setzt.

Kieser: Nationalistische Paukenschläge als Ablenkung von der Wirtschaftsmisere sind eine Erklärung. In eine ähnliche Richtung gehen seine brutalen Angriffe gegen die Kurden und sein erklärter Versuch, weiteres Gebiet in Nordsyrien zu besetzen. Das passt zu Erdogans Aktivismus: Er markiert den türkisch-nationalen Standpunkt – auch wenn sich «die ganze Welt gegen ihn verbündet». Dieses Muster beherrscht er meisterlich. Kemalisten, die ihn für seinen Islamismus kritisieren, bringt er mit nationalistischem Kriegsgeschrei wieder auf seine Seite. Der herausfordernde Habitus des Kämpfers für Islam und Türkentum ist ein Rezept, mit dem er immer wieder erfolgreich ist, um eine machtsichernde Minderheit hinter sich zu scharen.

Nur eines von vielen Streitthemen: Türkinnen und Türken protestieren im März 2021 gegen den Rückzug ihres Landes von der Internationalen Frauenrechtskonvention.
Nur eines von vielen Streitthemen: Türkinnen und Türken protestieren im März 2021 gegen den Rückzug ihres Landes von der Internationalen Frauenrechtskonvention.
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Hat der Protest des Westens Erdogan einen Vorwand geliefert? 

Ramm: Interventionen von westlichen Regierungen werden auch in der breiten Gesellschaft durchaus kritisch wahrgenommen. Etwa wenn man die EU-Türkei-Debatte denkt, wo mit doppelten Standards gearbeitet wurde, wenn etwa in der Türkei Menschenrechte angemahnt wurden, bei anderen Beitrittskandidaten aber nicht. Es gibt eine Sensibilität diesen Themen gegenüber – auch in der türkischen Öffentlichkeit allgemein. Ob Kritik jetzt nützt oder nicht, ist die Frage: Osman Kavala selbst hat es sicher nicht genützt. Ihn in dieser Lage zu entlassen, ist auch für den türkischen Präsidenten jetzt schwieriger.

Kieser: Es geht ja immer weiter. Ich habe das Beispiel mit Hitler genannt, Frau Merkel wurde als Nazi bezeichnet, es gab Antisemitismus auf höchster Ebene, die kurdischen Streitkräfte, die gegen den IS kämpfen, werden bombardiert, Zivilisten massakriert, etc. Das alles zu schlucken, geht irgendwann nicht mehr. Das Motto «Wir dürfen sie nicht provozieren» gibt es schon seit der Lausanner Konferenz vor hundert Jahren, aber das funktioniert nicht mehr. Dieses diplomatische Motto hat immer wieder üble Politik zugelassen, ja ermöglicht.

Welche Rolle spielen die Geflüchteten beim Konflikt mit dem Westen?

Kieser: Das war das Argument, das Frau Merkel im Umgang mit Erdogan «handzahm» gemacht hat. Die Geflüchteten spielen eine zentrale Rolle: Deutschland hat sich erst für sie weit geöffnet, dann kam das Gefühl der Überforderung und schliesslich der «Gang nach Canossa», also nach Ankara: Das ist die Struktur des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen Deutschland und der Türkei, bei dem die Geflüchteten als Erpressungsmittel dienen und die Türkei sich unentbehrlich macht. Es zeigt einen europäischen Mangel an ernsthafter politischer Fantasie: Diese Unsummen, die man der Türkei gegeben hat, hätte man auch anders einsetzen können – für ein funktionierendes System etwa, um zusammen mit Griechenland und Italien dasselbe Problem rechtsstaatlich anzugehen.

Präsident Erdogan am 16. Oktober 2021 beim Treffen mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel in Istanbul.
Präsident Erdogan am 16. Oktober 2021 beim Treffen mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel in Istanbul.
KEYSTONE

Ramm: Sie sind einer der wenigen Joker, die Erdogan noch geblieben sind. In EU-Kreisen ist in der aktuellen Situation mit Geflüchteten an der polnischen Grenze auch eine gewisse Panik zu spüren: Was passiert, wenn er jene wie schon einmal auffordert, zur Grenze zu gehen? Es ist ein zynisches Spiel auf beiden Seiten, wenn man mit solchen Drohkulissen arbeitet. Zur Türkei selbst ist zu sagen, dass sich die Stimmung in letzter Zeit gegen die Geflüchteten gedreht hat. Die Diskussion ist inzwischen Teil der innenpolitischen Auseinandersetzung geworden, es ist teilweise zu gewalttätigen Konflikten gekommen. Die Konkurrenz hat zudem in der Wirtschaftskrise zugenommen und macht die Geflüchteten angreifbarer.

Könnte die Schweiz womöglich in diesem Fall vermitteln?

Kieser: Es ist nicht ausgeschlossen. Im Rahmen der jüngsten weltweiten Polarisierungen hat man gesehen, dass die Schweiz etwa im Umgang mit Russland oder China eine neue, alte Rolle eingenommen hat. Der Schweizer Botschafter war an dem Protest in Ankara ja nicht beteiligt. Andererseits tickt Erdogan ganz anders als Wladimir Putin oder Xi Jinping, denen es wichtig ist, ein international anerkanntes Profil zu haben. Erdogan ist dagegen auf die islamische Welt ausgerichtet. Dort will er anerkannt werden. Bisher war die Schweiz kein Ort, an dem er sich gerne zeigt. Erdogan war einmal in Davos – nur um zu sagen, er komme nie wieder nach Davos. Ich bin nicht sicher, ob er Schweizer Dienste wirklich schätzen würde und könnte.

Begeisterung sieht anders aus: Der damalige türkische Premier Erdogan im Januar 2009 beim WEF in Davos.
Begeisterung sieht anders aus: Der damalige türkische Premier Erdogan im Januar 2009 beim WEF in Davos.
KEYSTONE

Ramm: Theoretisch ja, auch wenn ich mich nicht daran erinnere, dass die Schweiz in den letzten Jahren im Verhältnis zwischen Westen und der Türkei aktiv geworden ist.

2022 wird ein neuer Präsident gewählt. Wie sind die Aussichten?

Kieser: Wenn man die Umfragen anschaut, hat die AKP trotz vielerlei Versagens und Korruption noch Zuspruch, aber ihre frühere Stärke hat sie verloren. Ob neue Mehrheiten durch die jetzige Opposition auch eine demokratische Regierung möglich machen wird, ist offen. Die HDP, die Demokratische Partei der Völker – die einzige demokratische Partei nach westlichem Verständnis – ist vom Zusammengehen der Oppositionsparteien weitgehend ausgeschlossen, da für die meisten «zu kurdisch». Wohin die Wahl führen wird, ist alles andere als klar – auch deshalb, weil wir nicht wissen, ob Erdogan ein negatives Ergebnis akzeptieren würde.