Regierung geht dagegen vorBald hat China mehr Haustiere als Kinder
Samuel Walder
14.9.2024
Vor acht Jahren löste China das Ein-Kind-Gesetz auf. Doch die Wirtschaft und die äusseren Faktoren verleiten junge Paare nicht zu einer Familiengründung, sondern zu Hund und Katze.
Samuel Walder
14.09.2024, 17:06
Samuel Walder
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
In China entscheiden sich viele junge Paare zunehmend für Haustiere statt Kinder.
Die hohen Kosten für Familien können junge Paare nicht stemmen.
Die Regierung möchte gegen die steigenden Haustierzahlen vorgehen.
Hansen und seine Frau Momo sind seit sieben Jahren verheiratet und kümmern sich in ihrer Wohnung in der Pekinger Innenstadt um sechs kleine Kinder. Aber sie haben eine etwas andere Erziehungsroutine als die typische Mutter und der typische Vater: Sie spielen mit ihnen Fangen und gehen täglich mit ihnen spazieren.
Die Kleinen sind nicht ihre Kinder, sondern «Pelzbabys» oder «mao hai zi» auf Chinesisch, und das Paar liebt sie so sehr, dass sie sie als «unsere Töchter, unsere Söhne» bezeichnen. Sie meinen ihre Hunde. «Sie sind alle Teil unserer Familie. Wir sind eine grosse Familie», sagte Momo. Das ist ihr Spitzname, weil sie befürchtete, Ärger mit den Behörden zu bekommen, wenn sie offen über ihren Lebensstil spricht – ein Lebensstil, der im Widerspruch zu Chinas Bemühungen steht, die Geburtenrate zu erhöhen, wie CNN schreibt.
China hat mit einer schnell alternden Bevölkerung und einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung zu kämpfen, nachdem es jahrzehntelang eine Ein-Kind-Politik durchgesetzt hat.
Bald gibt es mehr Haustiere in China als Kinder
Laut einer Studie des in Peking ansässigen YuWa-Bevölkerungs-Forschungsinstituts von Anfang dieses Jahres ist das Land ausserdem einer der teuersten Orte der Welt, um ein Kind grosszuziehen. China liegt damit kurz vor Australien und Frankreich. Nach der Abschaffung der Ein-Kind-Politik im Jahr 2016 und einer weiteren wichtigen Änderung der Geburtenpolitik im Jahr 2021 möchte die Regierung nun, dass Paare drei Kinder bekommen.
Aber Peking war nicht so erfolgreich darin, die Geburtenrate zu erhöhen. Einem Forschungsbericht der Investmentbank Goldman Sachs vom Juli zufolge, in dem die steigende Nachfrage nach Tierfutter untersucht wurde, wird die Zahl der Haustiere in Chinas Städten bis Ende des Jahres voraussichtlich die Zahl der Kinder unter vier Jahren übersteigen.
Bis zum Jahr 2030 wird die Zahl der Haustiere allein im städtischen China fast doppelt so hoch sein wie die Zahl der Kleinkinder im ganzen Land, so die Prognose. Die Zahl der Haustierbesitzer*innen wäre sogar noch höher, wenn man die Zahl der Hunde und Katzen in ländlichen Gebieten mit einbeziehen würde.
Denn in unsicheren wirtschaftlichen Zeiten wollen sich Chines*innen keine Gedanken über die Familienplanung machen. Die Kosten für ein Kind in China sind extrem hoch. Deswegen weicht die Gesellschaft auf Haustiere aus.
Haustierpensionen sind in China ausgebucht
Mit der Vorhersage eines Anstiegs des Absatzes von Hunde- und Katzenfutter deckte Goldman Sachs einen Trend auf, der den chinesischen Behörden grosse Kopfschmerzen bereitet. Im Jahr 2022 ging die Bevölkerung des Landes zum ersten Mal seit Jahrzehnten zurück.
Tao leitet Space, eine Hundepension in Peking. Für sie bedeutet die Vorliebe für Haustiere ein gutes Geschäft. Da der chinesische Nationalfeiertag kurz bevorsteht, suchen Hundebesitzer händeringend nach jemandem, der sich während der Hauptreisezeit, die am 1. Oktober beginnt, um ihre Vierbeiner kümmert.
«Wir waren für diesen Feiertag fast ausgebucht», sagte sie. Tao, die auch nur ihren Spitznamen angibt, hat zwei Hunde und keine Kinder. Ihre Familie habe sie immer gedrängt, Kinder zu bekommen, aber sie wusste, dass das nicht das Leben war, das sie wollte.
«Ich geniesse meinen Lebensstil. Mein Partner und ich werden viel reisen. Ich mag es, die Welt zu sehen. Die Vorstellung, Kinder zu haben, war für mich einfach nicht attraktiv genug», sagte sie.
Die Mentalität hat sich geändert
«Ich habe das Gefühl, dass die Leute eher sagen: ‹Das ist es, was ich will› oder ‹Das ist es, was ich für mein Leben möchte›, als ‹Das ist es, was die Gesellschaft mir beigebracht hat› oder ‹Das ist es, was meine Eltern von mir wollen›», fügte Tao hinzu.
Stuart Gietel-Basten, Professor für Sozialwissenschaften und öffentliche Politik an der Hong Kong University of Science and Technology, sagte, dass sich Kinder und Haustiere in China nicht gegenseitig ausschliessen. Junge Paare stünden jedoch vor wachsenden Herausforderungen, die von Arbeitslosigkeit bis hin zu sozialem Druck reichten, wie zum Beispiel lange Arbeitszeiten und die Erwartung, dass einige Frauen ihre Karriere nach der Geburt eines Kindes aufgäben.
«Wenn man in China Anfang 20 ist und das starke Bedürfnis hat, sich zu kümmern, ist es viel einfacher, sich einen Welpen, ein Kätzchen oder ein Kaninchen zuzulegen, als einen Partner zu finden, den man heiraten und mit dem man Kinder haben möchte», so Gietel-Basten.
Hansen und Momo geniessen einfach die Gesellschaft ihrer Pelzbabys. «Wir folgen keinem Trend. Wir lassen uns nicht von ihnen beeinflussen. Es ist unsere eigene Entscheidung. Ich glaube, wir lieben einfach Hunde», sagte Hansen. Er sagte, er freue sich jeden Tag darauf, nach Hause zu kommen, weil seine Hunde so aufgeregt seien, ihn zu sehen.
Auf einer Frauenkonferenz im vergangenen Jahr hielt Chinas Staatschef Xi Jinping den Delegierten eine Rede über die Förderung einer neuen Art von Ehe- und Familienkultur. Die Botschaft an die chinesischen Frauen war klar: Heiratet und bekommt Kinder. Doch Momo meint, das Land müsse ohne ihre Gene auskommen. «Ich habe das Gefühl, dass China dieses eine Kind von mir nicht fehlt», sagt sie.