Kaum TodesfällePandemie-Geschehen in Afrika verblüfft selbst Experten
Von Maria Cheng und Farai Mutsaka, AP
20.11.2021 - 20:22
Zu Beginn der Pandemie hatten Experten gewarnt, das Coronavirus könne den Kontinent in eine Katastrophe stürzen. Doch das Infektionsgeschehen ist deutlich harmloser als in vielen anderen Teilen der Welt. Zu den Ursachen gibt es verschiedene Theorien.
DPA, Von Maria Cheng und Farai Mutsaka, AP
20.11.2021, 20:22
dpa/twei
Auf einem Markt in einem Armenviertel am Rande von Harare lässt Nyasha Ndou seine Maske in der Tasche. Hunderte andere Menschen, fast alle mit freiem Gesicht, schwirren um ihn herum, während sie Obst und Gemüse kaufen. Das Coronavirus wird hier, wie in den meisten Teilen Simbabwes, als Sache der Vergangenheit betrachtet. Längst sind auch wieder Konzerte, politische Kundgebungen und grössere private Versammlungen erlaubt.
«Covid-19 ist weg. Wann haben Sie zuletzt von jemandem gehört, der an Covid-19 gestorben ist?», sagt Ndou. Dass er überhaupt eine Maske dabei habe, liege nur daran, dass die Polizei sonst Geld von ihm verlangen könne.
Anfang der Woche hatte das afrikanische Land tatsächlich nur 33 neue Infektionen und keinen einzigen neuen Todesfall gemeldet. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehen die Zahlen auf dem ganzen Kontinent seit Juli merklich zurück.
Nur knapp sechs Prozent Impfquote in Afrika
Damit ist zumindest bisher nicht eingetreten, was zu Beginn der Pandemie im vergangenen Jahr befürchtet worden war. Die genaue Zahl der Opfer ist aufgrund der unzureichenden Datenlage in manchen Ländern zwar unklar.
Aber eine unkontrollierte Ausbreitung mit Millionen Toten konnte offensichtlich abgewendet werden. Eine eindeutige Erklärung für den vergleichsweise glimpflichen Verlauf der Pandemie in Afrika haben Wissenschaftler noch nicht gefunden.
Die Entwicklung habe etwas «Rätselhaftes», sagt Wafaa El-Sadr von der Columbia University in New York. «Afrika hat nicht die Impfstoffe und die Ressourcen zur Bekämpfung von Covid-19 wie Europa oder die USA. Aber irgendwie scheint es dort besser zu laufen», sagt die Expertin.
Nur knapp sechs Prozent der Bevölkerung des Kontinents sind geimpft. Und doch beschreibt die WHO Afrika in ihren wöchentlichen Pandemie-Berichten schon seit Monaten als «eine der am wenigsten betroffenen Regionen der Welt».
Studien untersuchen Corona-Ausbreitung in Afrika
Forscher verweisen auf eine Reihe von Faktoren, die zu dem positiven Trend beigetragen haben könnten. Zum einen ist die Bevölkerung des Kontinents sehr jung – das Durchschnittsalter der Afrikaner liegt bei etwa 20, während das der Westeuropäer bei etwa 43 liegt. Ausserdem ist die Urbanisierung weniger ausgeprägt. Und grosse Teile das Alltagslebens spielen sich im Freien ab. Einige Studien untersuchen derzeit, ob auch genetische Gründe oder Einwirkungen von anderen Krankheiten eine Rolle spielen könnten.
In gewisser Weise war der Kontinent aber womöglich auch besser auf das Coronavirus vorbereitet als westliche Industriegesellschaften. Die Behörden hätten Erfahrung damit, Epidemien auch ohne Impfstoffe in den Griff zu bekommen, sagt Christian Happi, Leiter des African Center of Excellence for Genomics of Infectious Diseases an der Redeemer's University in Nigeria.
Entscheidend seien dabei die umfassenden Netzwerke von lokalem Gesundheitspersonal. «Es geht nicht immer darum, wie viel Geld man hat oder wie fortschrittlich die Krankenhäuser sind», betont Happi.
Regierungen reagieren schnell mit Corona-Massnahmen
Auch Devi Sridhar, Gesundheitswissenschaftlerin an der University of Edinburgh in Schottland, hebt die schnelle Reaktion einiger afrikanischer Regierungen bei Ausbruch der Krise hervor. Mali etwa habe bereits vor dem Auftreten von ersten Corona-Fällen im Land die Grenzen geschlossen.
Der kulturelle Ansatz in Afrika sei ein anderer, sagt Sridhar. «Diese Länder sind Covid mit einem Gefühl der Demut begegnet, weil sie schon Dinge wie Ebola, Polio und Malaria erlebt haben.»
Die mit Abstand höchsten Infektionszahlen des Kontinents verzeichnete in den zurückliegenden Monaten Südafrika. Dort werden mehr als 89'000 Todesfälle mit dem Coronavirus in Verbindung gebracht. Aus den meisten anderen Ländern gibt es bisher keine Berichte über aussergewöhnlich hohe Sterberaten, die auf die Pandemie zurückgeführt werden könnten.
Bislang kaum Todesfälle in Afrika
Laut WHO machen die Corona-Toten in Afrika nur drei Prozent der weltweiten Opfer aus – der Anteil von Europa liegt demnach bei 29 Prozent, der von Nord- und Südamerika bei 46 Prozent.
In Nigeria, dem mit etwa 200 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Land des Kontinents, haben die Behörden erst knapp 3000 Todesfälle gemeldet. In den USA wird diese Zahl oft innerhalb von zwei bis drei Tagen erreicht. In dem Land selbst wird die vergleichsweise positive Entwicklung mit grosser Erleichterung aufgenommen. «Es hiess, es würden Leichen auf den Strassen liegen und so. Aber nichts dergleichen ist passiert», sagt die 23-jährige Opemipo Are aus der Hauptstadt Abuja.
Nach Einschätzung des nigerianischen Virologen Oyewale Tomori, der die WHO in mehreren Gremien berät, könnte Afrika am Ende sogar weniger auf Impfkampagnen angewiesen sein als der Westen. Das bedeutet aber nicht, dass Impfstoffe in Afrika nicht dringend gebraucht würden.
«Die Leute sollten sehr wachsam bleiben»
«Wir müssen umfassend impfen, um uns auf die vierte Welle vorzubereiten», sagt Salim Abdul Karim, Epidemiologe an der University of KwaZulu-Natal in Südafrika. «Wenn man sich anschaut, was in Europa passiert, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass mehr Fälle hierher herüberschwappen.»
Auch in anderen Teilen der Welt scheint die Pandemie in armen Ländern nicht unbedingt besonders gravierend zu verlaufen. In Afghanistan, das etwa 39 Millionen Einwohner hat, sind laut offiziellen Zahlen erst etwa 7200 Menschen mit dem Coronavirus gestorben – wenngleich dort wegen der angespannten Sicherheitslage nicht allzu umfassend getestet worden ist und die tatsächliche Zahl höher sein dürfte.
Im afrikanischen Simbabwe sind nicht zuletzt die Ärzte für die aktuell niedrigen Infektionszahlen dankbar. Sie warnen aber zugleich, dass sich die Lage schnell ändern könne. «Die Leute sollten sehr wachsam bleiben», sagt Dr. Johannes Marisa, Leiter eines örtlichen Ärzteverbandes. Er fürchte, dass seinem Land schon im Dezember eine neue Welle drohe. «Nachlässigkeit ist das, was uns fertigmachen wird», sagt der Mediziner. «Denn es trifft uns vielleicht, ohne dass wir es merken.»