Gefährdete grüne Lunge Bolsonaro bläst zum Angriff auf das Amazonasgebiet

Angelika Engler, dpa/uri

14.4.2019

Konsequent setzt rechtspopulistischer Präsident Jair Bolsonaro seine Wahlversprechen um. Sein wohl bedrohlichstes Vorhaben: der Sturm auf das Amazonasgebiet.

In den Händen federngeschmückte Pfeile und Bögen, den Blick fest nach vorn gerichtet – die beiden Krieger des Volks Parakanã im Amazonasbecken flössen Ehrfurcht ein. Das wollen sie auch, schliesslich treffen sie in ihrem indigenen Schutzgebiet Apyterewa im Bundesstaat Pará im Norden Brasiliens auf immer mehr unerwünschte bis gefährliche Eindringlinge: Goldgräber, Holzfäller, Grossbauern, die von Land und Bodenschätzen angelockt werden. Die Krieger sitzen vorn in einem Boot mit Mitgliedern ihres Volkes, es braust auf dem Fluss Xingú entlang. Das Ziel: ein Posten der Behörde Funai, die für den Schutz der Indigenen zuständig ist. Dort wollen sie neue Fälle von Invasion in ihrem Gebiet anzeigen.

Das Phänomen der Landnahme im rohstoffreichen und riesigen Amazonasbecken ist nicht neu in der grössten Volkswirtschaft Lateinamerikas mit ihren gut 215 Millionen Einwohnern. Auch frühere Regierungen, allen voran die Militärdiktatur (1964 bis 1985), scheuten nicht vor Projekten zurück, die Tausende Menschen – Indigene und andere Volksgruppen – aus ihren angestammten Lebensräumen verdrängten. Doch mit der Wahl des Rechtspopulisten Jair Bolsonaro zum brasilianischen Präsidenten im Oktober 2018 haben die Pläne zur wirtschaftlichen Erschliessung der Grünen Lunge schlagartig neue Dimensionen angenommen.



Schon als Abgeordneter fand Bolsonaro die indigenen Schutzgebiete viel zu gross. Im Wahlkampf sagte der Ex-Militär, er wolle «keinen weiteren Zentimeter» ausweisen und alle bestehenden Gebiete – sie machen seinen Worten zufolge etwa 15 Prozent der Staatsfläche aus – überprüfen. Viele verstanden dies als Türöffner und fühlten sich zum Sturm auf die Bodenschätze ermutigt. Die Abholzung am Amazonas zog schon während der Wahlkampfmonate kräftig an.

Extrem miese Zustimmungswerte für Bolsonaro

Bolsonaros Attacke liess international auch deshalb aufhorchen, weil das mehrere südamerikanische Staaten umfassende Amazonasbecken als CO2-Speicher von globaler Bedeutung ist. Auf Brasilien entfällt der grösste Anteil dieses Regenwaldgebietes – eine Landfläche grösser als Westeuropa, heisst es laut der Umweltschutzorganisation WWF.

«Das Neue an der Situation jetzt ist, dass die Stellen, die zum Schutz und zur Kontrolle da sind, an Einfluss eingebüsst haben», sagt Luís de Camões Lima Boaventura, Staatsanwalt für die Region um die Stadt Santarém im Staat Pará. Bezeichnenderweise bestand Bolsonaros allererste Amtshandlung nach seinem Antritt am 1. Januar darin, der Funai die Zuständigkeit für die Ausweisung neuer indigener Schutzgebiete zu entziehen und sie dem Landwirtschaftsministerium zuzuschlagen. Die mächtige Agrarlobby dürfte frohlockt haben. Allen voran die Sojabauern brauchen immer mehr Boden in dem Riesenland, das fast 50 Prozent der Fläche Südamerikas umfasst.



Bolsonaro hatte im Wahlkampf mit Hassreden gegen Homosexuelle, Frauen und Schwarze schockiert; die Wut vieler Wähler auf die verbreitete Korruption unter Politikern sowie die steigende Gewalt trugen ihn dann aber zum Sieg. Nun, inmitten einer Wirtschaftsflaute, einer Lockerung des Waffenbesitzes per Dekret und ersten Skandalen seiner Partei PSL kassiert er die schlechtesten Zustimmungswerte eines erstmals amtierenden Präsidenten nach 100 Tagen im Amt seit 1990: In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datafolha bewerteten 30 Prozent ihn und seine Regierung als negativ.

Es wird mit gefälschten Urkunden getrickst

«Wir beobachten, wie schon jetzt die in der Verfassung von 1988 verankerten Rechte Stück um Stück zurückgedreht werden», sagt Markus Löning, der frühere Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, der Unternehmen bei Investitionen im Ausland, über die dortige Menschenrechtslage berät. In jener Verfassung, mit der Brasilien zur Demokratie zurückkehrte, waren auch den mehr als 300 indigenen Völkern weitgehende Rechte zum Erhalt ihrer Lebensräume und Kultur garantiert worden.

Auch die Nachfahren von Sklaven sowie Flussbewohner müssen nun mehr denn je um ihre Lebensräume im Amazonasgebiet bangen. Im Kampf um Land wird dabei oft mit gefälschten Urkunden getrickst, weiss Jucelino Oliveira Farias von der Comissão Pastoral da Terra, einer Organisation der katholischen Kirche Brasiliens. «Von der Landaneignung profitieren vor allem Unternehmer und Grossbauern und nur ein ganz geringer Teil der Bevölkerung», meint Staatsanwalt de Camões Lima Boaventura. Die Folgen sind für die meisten Gewalt, Kriminalität, zerstörte Familien und grosse Umweltschäden. Europa könne da sehr wohl Einfluss nehmen, etwa als grosser Importeur von Holz. «Eine Lösung wäre, dass die Unternehmen stärker darauf achten, ob die Produkte legal hergestellt wurden».

Das Boot der Parakanã erreicht nach mehreren Stunden Bootsfahrt den Posten der Funai. Doch zu einer Anzeige kommt es dort nicht. «Der Funai-Chef weiss über die Lage Bescheid», meint Kawore Parakanã, ein Sprecher der Indigenen. «Aber er unternimmt nichts, wegen der neuen Regierung. Das war früher anders». Auf der Rückfahrt zu ihrem Dorf steigt ein anderer Indigener auf eines der Flösse der Goldwäscher, die mit ihrem Quecksilber den Fluss vergiften. Er fordert sie auf, das Gebiet zu verlassen. Und wenn sie bleiben? «Dann sage ich ihnen morgen wieder, dass sie verschwinden sollen».

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