Stagnation und SchuldenCorona-Aufbauplan gibt Italien Chance zu langfristiger Erholung
AP/toko
25.6.2021 - 00:00
Italiens Wirtschaft stagniert seit mehr als zwei Jahrzehnten und sitzt auf einem hohen Schuldenberg. Corona hat das noch verschlimmert. Aber vielleicht erwächst aus der Tragödie nun die Chance zu einer Wende.
DPA, AP/toko
25.06.2021, 00:00
25.06.2021, 04:46
AP/toko
Die Corona-Pandemie hat Italien besonders hart getroffen, sie hat dort mehr als 127'000 Menschenleben gefordert und die drittgrösste Wirtschaft der Europäischen Union auf eine verheerende Talfahrt geschickt. Aber aus der Tragödie erwachsen vielleicht Lösungen für Jahrzehnte alte Probleme, die Wachstum und Produktion gehemmt haben.
Gestützt durch 261 Milliarden Euro (rund 286 Milliarden Franken) an Corona-Aufbauhilfen von der EU und der Regierung in Rom will Italien einen Plan umsetzen, der die grundlegende Neuorganisation einer Wirtschaft vorsieht, die seit Langem durch zu bürokratische Schwerfälligkeit, politische Abneigung gegen Wandel und ein unbewegliches Bildungswesen behindert wurde. Das Steuer führt Ministerpräsident Mario Draghi, der frühere Chef der Europäischen Zentralbank, der insbesondere wegen seiner Wirtschaftserfahrung und institutioneller Kenntnisse an die Spitze einer nationalen Einheitsregierung berufen worden war.
Gewaltige Herausforderungen
Die Herausforderungen sind gewaltig: Italien hat in den mehr als 20 Jahren seit seinem Beitritt zur Euro-Währungsunion 1999 kein robustes Wachstum aufgewiesen. Und angesichts seiner oft widerspenstigen Politik besteht das Risiko, dass der Plan unzureichend ausgeführt wird. Aber «wenn sie sogar nur mit der Hälfte erfolgreich sind, wird es eine grosse Auswirkung haben», sagt Guntram Wolff, Direktor der Brüsseler Denkfabrik Bruegel.
Ein Hauptziel ist es, mehr junge hoch qualifizierte Arbeitskräfte vom Abwandern abzuhalten, ein Dauerproblem in Italien, das eine der niedrigsten Raten an Universitätsabsolventen in Europa aufweist und einen grossen Brain Drain, also intellektuellen Aderlass.
So sollen wissenschaftliche Entdeckungen künftig leichter auf dem Markt umgesetzt werden können. Das soll Start-ups und Industrien fördern und zugleich Karrieren für gebildete Italiener eröffnen, die andernfalls wegen niedriger Gehälter und begrenzter Berufsaussichten das Land verlassen würden.
Die Pandemie habe die Notwendigkeit starker einheimischer Forschungszentren unterstrichen, sagt Velia Siciliano, Leiterin eines biomedizinischen Labors am italienischen Institut für Technologie. Sie hat weite Teile ihrer wissenschaftlichen Karriere im Ausland verbracht, durch Studien dort auf ihren Universitätsabschlüssen in Italien aufgebaut und zum Beispiel in Grossbritannien einen Doktortitel erworben. 2019 wurde ihr ein Platz in Italiens Top Ten von Frauen zuerkannt.
Siciliano zufolge hat das Land bereits Programme zum Stopp des Brain Drain auf den Weg gebracht, mit Ad-Hoc-Initiativen, aber ein Schlüsselelement fehle: öffentlich-private Synergien, ein Zusammenspiel, das Forschungsresultate in neue Erfindungen und Innovationen münden lasse. Wenn ein solches System nicht genährt werde, Forschung nicht Technologie-Transfers einschliesse, würden italienische Wissenschaftler weiter das Ausland bevorzugen.
Die Unfähigkeit von Universitäten, Ideen in Start-ups umzusetzen, ist nur eines der Probleme, die im 270-seitigen Aufbauplan aufgelistet sind. Zu den anderen zählen zu viele bürokratische Hemmnisse für Unternehmen, ein niedrigeres Niveau der höheren Bildung als in vielen anderen entwickelten Ländern, verstopfte Gerichte und eine geringe Beteiligung von Frauen an der Berufswelt.
Der Plan sieht die Finanzierung von Initiativen zur Bekämpfung all dieser Probleme vor. Ein Beispiel dafür ist die Förderung von alternativen Wegen wie Schlichtung zur raschen Beilegung von Geschäftsdisputen.
Von den 261 Milliarden Euro an Hilfen kommt der Löwenanteil von 191,5 Milliarden aus dem Corona-Aufbaufonds der EU. Ein Teil sind Zuschüsse, der andere Kredite. Italien bekommt am meisten, weil es den schwersten wirtschaftlichen Schaden erlitten hat. Die Mittel aus dem Fonds sollen langfristiges Wachstum und Erholung durch wirtschaftliche Reformen, Massnahmen gegen den Klimawandel und die Verbreitung digitaler Technologien fördern.
Chronisch schwaches Wachstum
Italiens Lage: Von 1999 bis 2019 hat seine Wirtschaft nur um 7,9 Prozent zugelegt, im Vergleich zu Deutschland mit 30,2 Prozent, Frankreich mit 32,4 Prozent und Spaniens 43,6 Prozent. Das langsame Wachstum hat Italiens Schulden auf einer gefährlichen Höhe gehalten, die Pandemie den Verschuldungsgrad sogar noch weiter nach oben gebracht, von 134,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vor Corona auf 157,1 Prozent. Mehr Wachstum würde eine geringere Schuldenlast im Vergleich zum Umfang der Wirtschaft bedeuten.
Solange die Kreditkosten auf dem jetzigen Rekordniedrigstand bleiben, ist Italiens Verschuldung kein Problem. Aber steigen sie, könnte das Land zum Problem für die gesamte Eurozone werden: Italien ist zu gross, um von den anderen 18 Mitgliedsstaaten der Währungsunion gerettet zu werden, anders als kleinere Wirtschaften wie Griechenland und Irland während der Schuldenkrise von 2010 bis 2015.
Schon bei einem zusätzlichen halben Prozentpunkt an Wachstum wären Italiens Schulden auf lange Sicht viel leichter zu handhaben, sagt Wolff von der Bruegel-Denkfabrik. Es sei die wichtigste Frage der europäischen Währungsunion, von welchem Punkt an Italiens Schulden ein Problem würden – nicht nur für das Land selbst, sondern auch für die Eurozone.
Wolff zeigte sich indes «vorsichtig optimistisch», dass der Plan lange überfälligen Wandel bewirken könnte. «Dies hier ist die erste Regierung an der Macht in Italien, die wirklich von den richtigen Reformen spricht und die Unterstützung Europas hat, sie zu verwirklichen. Ich denke daher, dass es einen Grund gibt, zuversichtlich zu sein.»