Coronavirus – Italien Bergamo im Würgegriff: Täglich elf Seiten mit Todesanzeigen

SDA/tafi

22.3.2020 - 10:25

Vom industriellen Motor der Lombardei zum Wuhan Europas: Die geschäftstüchtige Stadt Bergamo ist in wenigen Wochen zum Lazarett Italiens geworden.

Bergamo und Umgebung sind mit 5869 Infizierten und fast tausend Toten das Zentrum der Pandemie in Europa. Keine italienische Stadt ist so stark vom Coronavirus betroffen. Die Zahl der Toten ist so hoch, dass seit Tagen die Lagerkapazität der Leichenhalle in Bergamo ausgeschöpft ist. Dies gilt auch für den einzigen Krematoriumofen, der derzeit 24 Stunden durchgehend läuft. Sowohl der Friedhof, als auch die Bestattungsinstitute sind seit längerem nicht mehr aufnahmefähig.

In der 120'000-Einwohner-Stadt sind Transporter der Armee pausenlos auf den Strassen unterwegs, um die Särge der Verstorbenen zu den Krematorien anderer Regionen zu bringen. Die Bilder des langen Konvois von Militärlastwagen erschütterten die Welt.

Lastwagenkonvois auf dem Weg in die Krematorien: die Bilder aus Bergamo erschüttern die Welt.
Lastwagenkonvois auf dem Weg in die Krematorien: die Bilder aus Bergamo erschüttern die Welt.
Keystone

Kein Licht am Ende des Tunnels

«Leider sehen wir immer noch kein Licht am Ende des Tunnels. Ich hoffe, dass sich in den nächsten Tagen die Situation bessert», kommentierte der Bürgermeister Giorgio Gori die Lage. Soldaten sind bei der Errichtung eines Feldkrankenhauses auf dem Messegelände Bergamos im Einsatz. Hier sollen Plätze für 300 Covid-Kranke entstehen, davon 100 auf der Intensivstation.

Bergamo trauert um eine ganze Generation von Menschen, die dem Coronavirus erlegen ist. Fast jede Familie weint um einen Angehörigen, der mit Coronavirus-Symptomen in die Intensivstation eingeliefert wurde und in wenigen Tagen allein sterben musste, ohne dass Verwandte ihm zur Seite stehen konnten. Viele Menschen konnten sich nur mehr per Telefon von dem Sterbenden verabschieden. Auf eine Trauerzeremonie muss verzichtet werden, da diese jetzt verboten sind.

Einsames Sterben auf der Intensivstation

Severa Belotti (82) und Luigi Carrara (86) aus der Gemeinde Albino bei Bergamo waren seit 60 Jahren verheiratet. Sie erlagen im Abstand von nur wenigen Stunden dem Coronavirus. «Ich habe von ihnen nicht Abschied nehmen können. Sie sind allein auf der Intensivstation gestorben, so geht es mit diesem fürchterlichen Virus fast jedem. Meine Eltern waren zwar ältere Menschen, sie waren aber bisher gesund», berichtete der Sohn der Opfer, Luca Carrara.

Die lokale Zeitung «L'Eco di Bergamo» veröffentlicht statt den bisherigen drei Seiten jetzt täglich elf Seiten mit Todesanzeigen. «Da Trauerzeremonien derzeit nicht stattfinden können, sind für viele Angehörige Todesanzeigen der einzige Weg, ihrem Leid Ausdruck zu geben. Durch Traueranzeigen wird einem klar, dass die Covid-Toten Menschen und nicht nur Zahlen sind», sagt Chefredakteur Alberto Ceresoli.

Viele Helfer bezahlen hohen Preis

Täglich berichtet Ceresoli über den Kampf seiner Stadt gegen die Pandemie. «Ein ehrenamtlicher Helfer des Roten Kreuzes, ein Arzt, ein Carabiniere, ein Dutzend Priester: Das sind nur einige der Opfer des Coronavirus in einer Stadt, die wegen dieser Epidemie einen unermesslich hohen Preis zahlt. Es handelt sich um Menschen, die im Dienst für andere standen, die gestorben sind, während sie sich um die Mitmenschen kümmerten», meint Ceresoli.

Auch Prominente beklagen Verluste. So trauert die aus Bergamo stammende Snowboard-Weltcupgesamt- und Olympiasiegerin Michela Moioli um ihre Grossmutter. «Fünf Minuten lang hat die Abschiedszeremonie von meiner Grossmutter gedauert. Und dabei hatten wir noch Glück: Viele können sich von ihren Angehörigen nicht einmal verabschieden», sagte Moioli. Auch ihr Grossvater Antonio habe Covid-19. Ihre Goldmedaille widmete sie ihrer Stadt, die sich in der Epidemie heldenhaft tapfer zeige.

Das lombardische Gesundheitssystem steht angesichts der Lawine neuer Infektionsfälle vor dem Kollaps. Daniele Macchini, Chirurg im Krankenhaus «Humanitas Gavazzen» von Bergamo, berichtet von einem täglichen Drama, das sich in den Spitälern der Lombardei abspielt. «Ein Krieg ist im Gange und wir kämpfen Tag und Nacht an vorderster Front», meint Macchini. Dabei kommen auch Mediziner ums Leben. Mindestens 17 Ärzte sind seit Beginn der Epidemie gestorben. Circa 10 Prozent aller Infizierten sind Sanitäter.

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