Corona-Hotspot Brasilien Die Angst vor neuen Varianten

Von Martina Farmbauer, dpa

25.3.2021 - 21:15

Eine Frau legt eine Rose auf eine Bahre mit Laken und Kissen, während eines Protestes im Gedenken an die rund 300'000 Corona-Toten in Brasilien.
Eine Frau legt eine Rose auf eine Bahre mit Laken und Kissen, während eines Protestes im Gedenken an die rund 300'000 Corona-Toten in Brasilien.
Andre Borges/dpa

Brasilien ist nach den USA das von der Corona-Pandemie am zweitstärksten betroffene Land. Mehr als zwölf Millionen Menschen haben sich infiziert, mehr als 300'000 sind schon gestorben. Die Proteste gegen Präsident Bolsonaro werden lauter.

25.3.2021 - 21:15

Vor dem Hospital Ronaldo Gazzola im Norden Rio de Janeiros liegen 30 Matten mit Leintüchern, mit Kopfkissen und auch mit Rosen. Die Matten sollen Krankenhausbetten versinnbildlichen, in denen Covid-19-Patienten behandelt werden. Mit den Blumen wird an Menschen erinnert, die an Corona gestorben sind. Es kommen viele Leute vorbei, um eine Rose niederzulegen.

Aber es geht nicht nur ums Gedenken. Antonio Carlos Casto, Chef der Nichtregierungsorganisation Rio de Paz, sagt: «Wir sind hier, um Grundlegendes zu fordern: ein Krisenkabinett, eine gemeinsame Anstrengung des Präsidenten der Republik, der Gouverneure und der Bürgermeister.»

Das 210-Millionen-Einwohner-Land gehört zu den Staaten, die von der Pandemie besonders betroffen sind: Jede der Matten steht auch für 10'000 Tote. Als zweites Land der Welt hat Brasilien am Mittwoch die Marke von 300'000 registrierten Corona-Todesopfern überschritten. Nur in den Vereinigten Staaten mit 545'000 Todesfällen sind dem Virus noch mehr Menschen zum Opfer gefallen.

Und noch eine traurige Zahl gab es diese Woche zu vermelden: Erstmals starben mehr als 3000 Menschen innerhalb eines einzigen Tages. Wissenschaftler rechnen damit, dass der Durchschnitt demnächst bei bis zu 3500 Toten pro Tag liegen wird. Mehr als 12,2 Millionen Menschen haben sich nachweislich infiziert.

Experten führen die Entwicklung unter anderem auf eine Variante des Corona-Virus zurück, die bei Reisenden aus dem Amazonas-Gebiet im Januar nachgewiesen wurde. «Diese neue Variante scheint eine grössere Geschwindigkeit der Ansteckung zu haben. Die Fälle scheinen sich schneller zu entwickeln», sagt der Epidemiologe Diego Xavier, der bei der Forschungseinrichtung «Fundação Oswaldo Cruz» (Fiocruz) arbeitet.

Gesundheitssystem vor dem Kollaps

Die Variante wurde inzwischen auch in vielen anderen Ländern nachgewiesen, auch in Deutschland. Sie muss nicht tödlicher sein. Die Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Astrazeneca wirken einer Studie zufolge besser gegen sie als zunächst angenommen. Aber durch die vielen Infizierten sind die Spitäler voll. Mancherorts können Patienten kaum noch versorgt werden. Brasiliens Gesundheitssystem ist dabei, zu kollabieren – oder vielerorts bereits zusammengebrochen.

Betroffen ist nicht nur die abgelegene Amazonas-Metropole Manaus, sondern insbesondere auch der Süden und Südosten: São Paulo, Brasiliens reichste Stadt, und der Bundesstaat Rio Grande do Sul, der von deutschen Einwanderern geprägt wurde. In 24 von 26 Bundesstaaten sowie im Hauptstadtdistrikt Brasília ist die Lage auf den Intensivstationen in «kritischem Zustand». Hunderte warten auf ein Bett oder sterben in der Schlange. Medikamente und Sauerstoff fehlen. So gehen etwa die Vorräte an Beruhigungsmitteln und Muskelblockern, die zur Intubation benutzt werden, zur Neige, wie «BBC Brasil» unter Berufung auf den Rat der Gesundheitssekretäre in allen Bundesstaaten meldete.

«Am Ende verlieren sie ihr Leben»

Jüngere sind besonders betroffen. «Die Leute gehen raus, weil sie denken, dass sie nur Geschmacks- und Geruchssinn verlieren», sagt der Gesundheits-Sekretär des Bundesstaats São Paulo, Jean Gorinchteyn. «Und am Ende verlieren sie ihr Leben.»

Die zunehmende Ausbreitung von Sars-CoV-2 hat nach Einschätzung von Fiocruz «besorgniserregende Varianten» wie die neue P.1-Variante begünstigt. «Das grosse Problem ist, dass diese Variante in Brasilien aufgetreten ist, weil die Pandemie schon ausser Kontrolle war», sagt Xavier. «Das passiert – wie auch in Grossbritannien oder Südafrika – dort, wo es viele Fälle gibt und eine hohe Ansteckung.»

Jair Bolsonaro, Präsident von Brasilien, steht wegen der Bilanz seiner Regierung in der Corona-Pandemie massiv in der Kritik.
Jair Bolsonaro, Präsident von Brasilien, steht wegen der Bilanz seiner Regierung in der Corona-Pandemie massiv in der Kritik.
Eraldo Peres/AP/dpa

Wer einmal lügt...

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hat das Coronavirus von Anfang an verharmlost. Xavier sagt: «Wenn der Präsident so weitermacht und die Ansteckung weitergeht, dann kann noch eine neue Variante kommen, die nicht auf einen Impfstoff reagiert.» Nach der Rückkehr des beliebten linken Ex-Staatschefs Luiz Inácio Lula da Silva auf die politische Bühne hat der Rechtspopulist seinen Ton – auch mit Blick auf Impfungen – allerdings etwas gemildert.

Inzwischen hat er die Gründung eines Krisenkomitees angekündigt. Bolsonaro weist auch auf die Bemühungen zum Erwerb von Impfstoffen hin. 500 Millionen Impfdosen bis zum Jahresende seien «garantiert». «2021 wird das Jahr der Impfung der Brasilianer», verspricht der Präsident. Viele glauben ihm nicht. Als Zeichen des Protests schlagen sie nun auf Töpfe und Pfannen. Auch «Mörder»-Rufe wurden laut.

Immer wieder hatte Brasilien den Impfbeginn verschoben, die Menge der Impfdosen korrigiert. Das ist umso tragischer, weil das Land eigentlich über die Möglichkeiten für eine erfolgreiche Impfkampagne verfügt – ein umfassendes und kostenloses öffentliches Gesundheitssystem, in dessen Rahmen 2019 gegen das Influenzavirus in drei Monaten 80 Millionen Menschen geimpft wurden.

Immerhin hat eine Fabrik im Norden Rios inzwischen mit der grossangelegten Herstellung des Astrazeneca-Impfstoffs auf Basis von importiertem Arzneistoff begonnen. Bolsonaro lehnt einen Lockdown aus wirtschaftlichen Gründen weiter ab. Aber Bürgermeister und Gouverneure von wichtigen Städten und Bundesstaaten haben einen Lockdown mit einem «Super-Feiertag» über zehn Tage von Freitag an kombiniert. Bei Verstössen drohen Strafen bis hin zu Gefängnis.

Von Martina Farmbauer, dpa