Experte über Kiews Offensive «Den Kriegsschauplatz in zwei Teile zu teilen, ergibt Sinn»

Von Andreas Fischer

6.6.2023

Teile von Cherson nach Staudammbruch überflutet: «Hier wird alles sterben»

Teile von Cherson nach Staudammbruch überflutet: «Hier wird alles sterben»

Die Stadt Cherson am Dnipro liegt nicht weit flussabwärts vom jüngst beschädigten Kachowka-Staudamm. Erste Häuser stehen unter Wasser. Die Bewohner befürchten schlimme Folgen.

06.06.2023

Die ukrainische Armee rückt offenbar an mehreren Stellen der Front vor und will sich auch vom Dammbruch am Dnjepr nicht aufhalten lassen. Militärexperte Marcel Berni erklärt, worauf es jetzt ankommt.

Von Andreas Fischer

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die Offensive läuft an, geichwohl ist Kiew von einer kriegsentscheidenden Wende noch weit entfernt.
  • Militär-Experte Marcel Berni erklärt, welche Operation für die Ukraine nun erfolgversprechend ist.
  • Die Zerstörung des Staudamms in Nowa Kachowka nützt beiden Kriegsparteien.

Zeitplan und genaue Stossrichtung sind nicht bekannt, eine grossangelegte Offensive der Ukraine, um von Russland besetzte Gebiete zu befreien, wird gleichwohl seit Wochen erwartet. Sie könnte sogar schon begonnen haben.

Ein Indiz dafür sind die Partisanenkämpfe im russischen Oblast Belgorod nördlich von Charkiw. Diese Angriffe «sind Teil des Austestens der russischen Verteidigungsbereitschaft und damit eine wichtige Vorbereitung der ukrainischen Offensive», sagt Marcel Berni im Gespräch mit blue News.

Der Strategieexperte der Militärakademie an der ETH Zürich ordnet die Kämpfe in Russland «in die erste Phase der Offensive ein, in der es, wie bei den Drohnenangriffen auf Moskau in der vergangenen Woche, darum geht, Verwirrung zu stiften, gegnerische Truppen abzulenken und Russland zu zeigen, dass auch das eigene Gebiet angreifbar ist.»

Ukraine will den Kriegsschauplatz zerteilen

Russland werde gezeigt, dass der Grenzschutz nicht genügt. «Die Armee muss allenfalls Truppen abziehen, die eigenen Frontverbände umgruppieren und damit schwächen», erklärt Berni.

In den vergangenen Tagen ist in den festgefahrenen Stellungskrieg in der Ukraine dann auch wieder etwas Bewegung gekommen. Zuletzt gab es Anzeichen dafür, dass die Ukraine Richtung Mariupol vorstösst, gleichzeitig wurden verstärkte Angriffe an anderen Frontabschnitten weiter nördlich gemeldet.

Die Informationen zur derzeitigen Lage kann Marcel Berni nicht verifizieren, dazu ist die Nachrichtenlage zu unübersichtlich. «Ziel und Stärke des ukrainischen Stosses sind zur Zeit nicht abschätzbar.»

«Militärisch würde es aber Sinn ergeben, den Kriegsschauplatz in zwei Teile zu teilen», erklärt Berni. «Wenn es den ukrainischen Kräften wirklich gelingt, von Norden her Richtung Mariupol vorzustossen, dann wäre die Teilung gelungen. Diese Offensivoperation wurde in den vergangenen Tagen immer wieder diskutiert.»

Zerstörter Staudamm ist «ein einschneidendes Ereignis»

Auf der einen Seite lägen dann die Krim und die Südfront, und auf der anderen Seite die Ostfront im Donbass: Dazwischen wäre ein Keil, sodass die russischen Verbände ihre Logistik immer auf der äusseren Linie über die verwundbare Krimbrücke verschieben müssten: «Sie könnten nicht mehr von der Landverbindung durch die besetzten Gebiete profitieren, sondern müssten mit Truppen und Material durch das russische Kernland», sagt Berni.

Hat die kriegsentscheidende Wende, von der der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seit Wochen spricht, also schon begonnen? «Ich denke nicht, dass gerade eine Wende im Krieg eingeläutet wird. Dazu fehlen uns noch die Indikatoren», schätzt Berni ein. Allerdings, so der Strategie-Experte, sei der Bruch des Kachowka-Staudamms in der vergangenen Nacht «ein einschneidendes Ereignis». Davon aber wollen sich die ukrainischen Streitkräfte nach eigenen Angaben nicht aufhalten lassen.

Die Westfront ist für beide Seiten unpassierbar

Durch die Zerstörung des Staudamms sind offenbar vor allem die nicht von Russland besetzten Gebiete rechts des Dnjepr von Überflutungen bedroht, weil das Ufer auf dieser Seite etwas tiefer liegt. «Für Russland macht die Überschwemmung die ganze Westfront sicherer», schätzt Marcel Berni ein. «Die ukrainischen Kräfte können dort nicht mehr so einfach vorstossen: Eigentlich hätten sie nur den Dnjepr überschreiten müssen, jetzt aber müssen sie ein grosses versumpftes Gebiet durchqueren.»

Andererseits, betont Berni, hätte auch die Ukraine mögliche militärische Vorteile von der Überflutung. «Durch die Überschwemmung kommen für Russland keine Gegenangriffe im Westen der Front mehr infrage, weil auch russische Stellungen überflutet werden und das Gebiet auf Wochen hinaus neutralisiert ist.» Der Dammbruch schütze quasi beide Seiten «in ihren jeweiligen Kernoperationen, die wahrscheinlich in den nächsten Tagen beginnen werden.»

Die ukrainischen Truppen rücken derzeit an mehren Frontabschnitten vor und wollen wohl einen Keil in die von Russland besetzten Gebiete treiben.
Die ukrainischen Truppen rücken derzeit an mehren Frontabschnitten vor und wollen wohl einen Keil in die von Russland besetzten Gebiete treiben.
Iryna Rybakova via AP