Russische Rekruten Vorne schiesst der Feind, hinten die eigene Truppe

Von Andreas Fischer

17.10.2022

Russische Rekruten auf einem Bahnhof in Prudboi in der Region Wolgograd: Sie ziehen schlecht ausgerüstet in den Krieg.
Russische Rekruten auf einem Bahnhof in Prudboi in der Region Wolgograd: Sie ziehen schlecht ausgerüstet in den Krieg.
Uncredited/AP/dpa

Nach der Mobilmachung bekommen russische Rekruten keine oder nur eine kurze Ausbildung, die Ausrüstung müssen sie selbst bezahlen. Und an der Front droht auch noch der Tod durch die eigenen Leute.

Von Andreas Fischer

Fünf bis zehn Tage – mehr Zeit für ihre Ausbildung hatten die Männer nicht, bevor sie an die Front in der Ukraine geschickt wurden. 16'000 neue Rekruten sind nach der am 21. September verkündeten Mobilmachung bereits an der Front: Das bestätigte der russische Präsident Wladimir Putin auf einer Pressekonferenz bereits am 14. Oktober.

Die Rekruten, so Putins Begründung, würden dringend benötigt, da sich die Front in der Ukraine über fast 1200 Kilometer erstrecke. Die Ausbildung, versprach er, solle bei den Kampfeinheiten in der Ukraine fortgesetzt werden. Ein Versprechen, das offenbar nicht gehalten wird. In sozialen Medien tauchen immer wieder Berichte von Betroffenen auf, die miserable Zustände beschrieben: Den Rekruten fehle es an allem – an Essen, an Ausrüstung und eben an der Ausbildung.

Mehr als 220'000 Soldaten hat Russland in seiner ersten Mobilmachung seit dem Zweiten Weltkrieg bereits eingezogen. Sie sollen so schnell wie möglich die Lücken füllen, die von der ukrainischen Offensive in den Frontverbänden gerissen werden.

Die ersten Reservisten sind bereits gefallen

Das Problem dabei: Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Russland zieht, anders als angekündigt, nur wenige Reservisten mit militärischen Grundkenntnissen ein und geht bei der Rekrutierung ziemlich willkürlich vor.

«Indem sie der sofortigen Mobilisierung möglichst vieler Einheiten für die laufenden Kämpfe in der Ukraine Vorrang einräumt», schätzt der in Washington ansässige Thinktank «Institute for the Study of War» ein, «gefährdet die russische Militärführung den künftigen Wiederaufbau der Streitkräfte.» Drei Wochen nach Beginn der Mobilisierung haben russische Behörden bereits den Tod mehrerer gerade erst einberufener Soldaten in der Ukraine eingeräumt.

Niemand kann die Rekruten ausbilden

Die militärische Ausbildungsinfrastruktur Russlands ist quasi nicht mehr vorhanden, berichtet die «New York Times». Mit Beginn des Krieges seien die Militärausbilder in die Ukraine verlegt worden, sodass die Einheiten die Lücke mit Veteranen oder Lehrern von Militärakademien füllen mussten.

«Sie haben viele Militärspezialisten verloren», schätzte auch Gleb Irisov, ein Veteran der russischen Luftwaffe und ehemaliger Analyst gegenüber der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS ein. «Es gibt niemanden, der diese neuen Leute ausbilden kann.»

Die Beweise für die mangelnde Ausbildung sind zwar anekdotisch, schreibt die «New York Times». Doch die schiere Anzahl von Videos aus allen Teilen Russlands zeigen zusammen mit Streikdrohungen von Wehrpflichtigen auf Social-Media-Kanälen und kritischen Kommentaren von kremltreuen Militärbloggern, dass Moskau mit der Mobilmachung mehr Probleme schafft als löst.

Russen müssen Schutzausrüstung selbst kaufen

Das britische Verteidigungsministerium erklärte am Samstag in seinem regelmässigen Geheimdienst-Update zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu den russischen Reservisten: «Das durchschnittliche Niveau ihrer persönlichen Ausrüstung ist mit ziemlicher Sicherheit niedriger als die ohnehin schlechte Versorgung von zuvor eingesetzten Truppen.»

Viele Reservisten müssten ihren eigenen Körperschutz wahrscheinlich selbst kaufen, vor allem eine moderne Schutzweste vom Typ 6B45, die eigentlich im Rahmen des russischen Ausrüstungsprogramms generell an Kampftruppen ausgegeben werden sollte. Deren Preis habe sich im russischen Onlinehandel seit April mehr als verdreifacht.

Schiesserei auf Ausbildungsplatz

Angesichts dieser Zustände scheinen die Nerven bei den Rekruten blank zu liegen, wie Meldungen von gewaltsamen und teils tödlichen Auseinandersetzungen auf russischen Militärbasen vermuten lassen. So seien nahe der Stadt Belgorod im Südwesten Russlands bei einem Zwischenfall mit Waffen elf Menschen getötet worden. 15 weitere wurden verletzt, wie das Verteidigungsministerium am Samstag in Moskau der Staatsagentur Tass zufolge mitteilte. In anderen russischen Medien war von bis zu 22 Toten die Rede.

Zwei Personen hätten auf einem Truppenübungsplatz das Feuer eröffnet. Das Ministerium selbst sprach von einem Terroranschlag. Zwei Bürger eines GUS-Staates seien dafür verantwortlich, teilte das Ministerium mit. Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ist ein loser Staatenverbund ehemaliger Sowjetstaaten. Die beiden Schützen sollen nach Angaben aus Moskau getötet worden sein.

«Wir werden von den eigenen Leuten erschossen»

Im Krieg werden die russischen Soldaten dann offenbar abhängig von ihrem Status eingesetzt, wie ein abgehörtes Telefonat nahelegt, dessen Echtheit nicht unabhängig zu überprüfen ist. An vorderster Frontlinie stünden dabei Sträflinge, die zuletzt mit der Aussicht auf Straferlass in den Krieg gelockt wurden.

Die Sträflinge sind dem Feuer der ukrainischen Soldaten unmittelbar ausgesetzt: Versuchen sie zu fliehen, sollen sie von den eigenen Leuten in der zweiten Reihe erschossen werden. Dies seien vornehmlich die mobilisierten Reservisten, wie der Anrufer erklärt. Erst dahinter würden die regulären Truppen stationiert sein, die ebenfalls Order hätten, jegliche Fluchtversuche mit Waffengewalt zu unterbinden. «Es ist unmöglich zu fliehen. Wir werden sonst von den eigenen Leuten erschossen.»

Für die Reservisten ist die gegenwärtige Situation gelinde ausgedrückt «sehr seltsam», wie ein Betroffener dem Nachrichtenmagazin «Spiegel» anvertraute: «Wir wissen nicht, wofür wir kämpfen sollen, aber jetzt müssen wir es eben.» Seine einzige Motivation zu kämpfen sei, zu seiner Frau und seinem Kind zurückkehren zu können.

Mit Material der Nachrichtenagentur dpa.

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