«Panik» und «Bankrotterklärung» Die Reaktionen auf Putins Teilmobilmachung

Von Monique Misteli und Uz Rieger

21.9.2022

Putin lässt mit Teilmobilmachung Konflikt in der Ukraine weiter eskalieren

Putin lässt mit Teilmobilmachung Konflikt in der Ukraine weiter eskalieren

Der russische Präsident Wladimir Putin hat eine Teilmobilmachung der Russen im wehrfähigen Alter angekündigt und dem Westen gedroht. 300.000 Reservisten sollen die russischen und separatistischen Kräfte im Süden und Osten der Ukraine verstärken.

21.09.2022

Kremelchef Putin will 300'000 neue Soldaten mobilisieren und in de Ukraine entsenden. Das sagen nationale und internationale Fachleute dazu.

Von Monique Misteli und Uz Rieger

21.9.2022

Mit dem heutigen Befehl zur Teilmobilmachung provoziert Wladimir Putin eine neue Eskalationsstufe im Krieg gegen die Ukraine. 300'000 neue Soldaten sollen das Blatt für Russland wenden. Die nationale und internationale Presse wertet die Ankündigung des Kremlchefs grösstenteils als ein Akt der Verzweiflung. Eine Auswahl.

«Alles auf eine Karte setzen»

Mit der Teilmobilmachung, bei der Russland 300’000 Mann zum Kriegsdienst einberufen will, «setzt Putin alles auf eine Karte», so die Analyse im «Tages-Anzeiger». Schaffe es Putin, die neuen Kräfte,rasch und «gut bewaffnet an die Front» zu bringen, werde die «Übermacht erdrückend sein». Dann drohe der ukrainischen Armee, «die nur noch wenig Reservemöglichkeiten haben dürfte», der «Tag der Wahrheit».

Auch baue Putin die «atomare Drohkulisse so konkret und beängstigend» wie noch nicht zuvor auf. Er wolle der Entschlossenheit des Westens offensichtlich noch mehr Entschlossenheit entgegensetzen. Damit werde «die Lage ist so unberechenbar wie wohl noch nie».

Ein Mann passiert in Moskau einen Wohnblock mit einem Wandgemälde russischer Truppen, just an dem Tag wo Kremlchef Putin die Teilmobilmachung von 300'000 Soldaten bekannt gibt. Russische Staatsbürger, die sich in der Reserve befinden, werden zum Militärdienst einberufen. 
Ein Mann passiert in Moskau einen Wohnblock mit einem Wandgemälde russischer Truppen, just an dem Tag wo Kremlchef Putin die Teilmobilmachung von 300'000 Soldaten bekannt gibt. Russische Staatsbürger, die sich in der Reserve befinden, werden zum Militärdienst einberufen. 
KEYSTONE

Allerdings sei noch nicht klar, wie die Teilmobilmachung in Russland tatsächlich ankomme, denn die Forderungen der Hardliner müssten sich nicht mit den Ansichten der Bevölkerung decken. Bislang sei der Krieg in der Ukraine für zwei Drittel der russischen Bevölkerung kein Thema, so die Analyse.

Mit der Teilmobilmachung werde der Krieg mitten die russische Gesellschaft getragen, mit einem damit einhergehenden Risiko: Selbst Putin-Anhänger «könnten schnell das Lager wechseln, wenn plötzlich sie und ihre Lieben gezwungen werden», in den Krieg zu ziehen»-

Wahres Motiv für Angriffskrieg 

Laut dem langjährigen Russland-Korrespondenten von Radio SRF, David Nauer, habe Putin sein wahres Motiv für den Angriffskrieg gegen die Ukraine offenbart. Im Interview sagt er, Putin wolle – wie Peter der Grosse – Gebiete erobern und sich einverleiben – Gebiete, von denen Putin glaubt, dass sie Russland gehören.

Er will also mit Gewalt einem Nachbarland Territorium wegnehmen. Das ist eine Zeitenwende: Europa hat seit dem Zweiten Weltkrieg gedacht, solche imperialen Eroberungskriege hinter hinter sich zu haben, so Nauer.

Eskalation als Zeichen der Schwäche

Mauro Mantovani, Strategieexperte der ETH-Militärakademie, deutet in einem Interview mit Blick TV die Teilmobilmachung doppelt. Einerseits sei die Ankündigung ein Ausdruck von Panik über den Kriegsverlauf. Der Kreml erkläre somit politischen und militärischen Bankrott.

Zum Andern sei dies ein Zeichen des Kremls, dass man sich noch lange nicht geschlagen gebe. Dies seien denkbar schlechte Prognosen für Friedensverhandlungen, sagt der Strategieexperte.

Die NZZ schätzt die Teilmobilmachung ebenfalls als Akt der Verzweiflung ein. Damit hole Putin den weit entfernten Krieg nun in die Mitte der russischen Gesellschaft. Putins versuche mit diesem Schritt aber primär nach eine Reihe von katastrophalen Rückschlägen die Lage zumindest zu stabilisieren, resümieren Analysten in dem Bericht.

Auch der deutsche «Spiegel» betrachtet die von Putin ausgerufene neue Phase des Krieges als «Eskalation aus einer Position der Schwäche». Bereits mit dem Rückzug aus dem Gebiet Charkiw sei deutlich vor Augen geführt worden, dass die russische Führung ihr Versprechen, «für immer» in den eroberten Gebieten zu bleiben, nicht halten könne.

Mit den Pseudoreferenden versuche Putin, sich nun eine «Scheinlegitimität» zu geben, um die besetzten Gebiete zu annektieren und die Lage politisch einzufrieren. Gleichzeitig sei die Anordnung der Teilmobilmachung ein «überdeutliches Zeichen, dass es an der Front nicht läuft». Die Unruhe im Land wachse nun, vor allem bei den Männern, die Teil der Reserve seien. Hier herrsche Angst.

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Zugleich versuche Putin mit der Drohung eines möglichen Atomwaffen-Einsatzes auch Druck nach Aussen aufzubauen, wobei der Erfolg hier nur mässig wirken dürften, da sich die beständigen Anspielungen auf das Atompotenzial abgeschliffen haben dürften oder wie es der «Spiegel» schreibt: «Anscheinend glaubt Putin noch immer, dass er mit Droh-Szenarien gegen die Ukraine und den Westen nach fast sieben Monaten Krieg etwas erreichen kann.»

Putin in seiner gefährlichsten Form

Für die «New York Times» zeigt sich nun ein Putin in «seiner gefährlichsten Form». In die Enge getrieben, verwandle er den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine einmal mehr in einen Akt der «Verteidigung des Vaterlandes», was bei der russischen Bevölkerung Anklang finden dürfte.

Putins Rede, die freilich auch ein Bluff sein könne, stelle den Westen aber vor ein grosses Dilemma, das dem Krieg in der Ukraine von Anfang an innegewohnt habe, so die Analyse der «New York Times»: Wie weit kann die Unterstützung der Ukraine gehen?

Auch sei der letzte Schritt Putins ein weiterer Versuch, den Westen vor einem harten Winter mit steigenden Energiekosten und wachsender Inflation zu spalten. So zeige sich auch gerade, dass etwas Frankreich, Deutschland und Italien immer noch auf Diplomatie setzen würden, während die USA derzeit das Interesse daran verloren hätten.

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