Moskauer Meinungsforscher«Die russische Gesellschaft ist amoralisch»
uri
30.12.2022
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Lew Gudkow vom letzten unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Russlands zeichnet ein düsteres Bild der russischen Gesellschaft: Sie stehe weiter hinter dem Krieg – aus Egoismus und fehlender Empathie.
uri
30.12.2022, 17:57
uri
Bereits mehr als 300 Tage dauert der Krieg in der Ukraine. Das Leid ist immens, laut Angaben der Behörden sind fast 80'000 Zivilisten und eigene Soldaten ums Leben gekommen.
Aber auch bei den russischen Angreifern geht die Zahl der Opfer in die Tausende: Kiew spricht von fast 68'000 toten russischen Soldaten, die USA rechnen mit 20'000 gefallenen Russen und Moskau selbst geht von knapp 6000 getöteten eigenen Soldaten aus.
Dennoch bleibt der Protest in Russland still, die Bevölkerung scheint den Angriffskrieg weiter mitzutragen. Und das obwohl auch in Russland keine Kriegseuphorie herrscht. An der Unterstützung der Russen für den Krieg dürfte sich indes so rasch wenig ändern, erklärt der wissenschaftliche Leiter des einzigen unabhängig arbeitenden russischen Meinungsforschungsinstituts.
Der 76-jährige Soziologe Lew Gudkow leitete jahrelang das private russische Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum. Heute ist er Vizechef und wissenschaftlicher Leiter des Instituts. Gegenüber «Spiegel-Online» zeichnet Gudkow ein düsteres Bild der Verfassung der russischen Gesellschaft.
Massaker an Ukrainern spielen keine Rolle
Gudkow kann dabei weiterhin auf die Daten aufwendiger Telefonbefragungen in Russland zurückgreifen, wie er erklärt. Indes sei zu befürchtet, dass sich das schon bald ändern könnte.
Schon im Jahr 2016 stuften die russischen Behörden sein Lewada-Zentrum laut dem «Spiegel» als sogenannten ausländischen Agenten ein. Nun droht die Schliessung des Instituts mit der Begründung, es betreibe antinationale Aktivitäten. Auf die Frage, ob er selbst denn keine Angst habe, meinte Gudkow denn auch: «Es wäre dumm, keine Angst zu haben.»
Kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar befürworteten laut dem Soziologen rund 68 Prozent der befragten Russinnen und Russen den «Spezialoperation» genannten Krieg. Auch zehn Monate später schaffe die staatliche Propaganda noch einen breiten Konsens im Land: Zuletzt seien immer noch 53 Prozent der Meinung gewesen, die Militäroperation in der Ukraine verlaufe erfolgreich und lediglich ein Drittel sehe das anders.
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Auch die Gründe für die Kritik am Krieg macht wenig Hoffnung: «Die Menschen sorgen sich fast ausschliesslich um die militärische Niederlage ihres eigenen Landes, das Chaos in der Armee, die Inkompetenz der Führung», so Gudkow. Der Krieg selbst werde nicht infrage gestellt. Auch würden die Angriffe auf den Nachbarn und die Massaker keine Rolle spielen.
«Die Russen haben kaum Mitgefühl mit den Ukrainern»
«Die Russen haben kaum Mitgefühl mit den Ukrainern», so das ernüchternde Fazit des Gudkows. Nur 1,5 bis 2 Prozent der Befragten sprächen überhaupt darüber, dass dort Menschen getötet würden. Und lediglich zehn Prozent der Bevölkerung zeigten Schuld oder Einfühlungsvermögen für die Ukrainer. «Die russische Gesellschaft ist also amoralisch», sagt Gudkow.
Dabei wollten auch die Russen keinen Krieg, erklärt er dem «Spiegel». Jedoch verhielten sich die Menschen «unterwürfig» und «passiv» und wollten nicht in einen offenen Konflikt mit dem Staat treten. Nicht zuletzt das enttäusche ihn, so der Soziologe.
Der Krieg lege dabei allerdings nur Mechanismen in der Gesellschaft offen, die seit Sowjetzeiten bestehen. Aus Gewohnheit würden sich die Russ*innen mit dem Staat identifizieren und dessen «Rhetorik über den Kampf ihres Vaterlands gegen den Faschismus und Nazismus» übernehmen, um die aktuelle Lage zu rechtfertigen.
Muster sind schon lange in den Köpfen angelegt
Das nun gezeigte Verhalten sei dabei schon lange in den Köpfen der Menschen angelegt – die staatliche Propaganda aktiviere nur entsprechende Muster. Empathie und Mitgefühl gebe es lediglich «für die eigenen toten und verwundeten Soldaten, ‹unsere Männer›», so Gudkow.
Zwar sinke die Zustimmung zu Putin bei den Jüngeren zwischen 18 und 24 Jahren inzwischen, weshalb er nicht mehr – wie noch vor fünf Jahren – von einer «Putin-Jugend» spreche. Allerdings gehe auch diese Altersgruppe den Krieg «unterwürfig mit», obwohl sie durch das Internet besser informiert sei, sagt der Meinungsforscher.
Die wenigsten der Jungen würden Verantwortung für den Krieg übernehmen. Auch sinke derzeit – aus Angst vor sozialer Isolation – die Bereitschaft, sich an Protesten zu beteiligen.
Sowjetmensch vom «putinschen» Menschen abgelöst
Nachdem Putin 22 Jahre an der Macht ist, sei der Sowjetmensch durch den «putinschen» Menschen abgelöst, lautet Gudkows Analyse. Bei diesem handle es sich um die Fortsetzung des Sowjetmenschen, allerdings sei der neue Typus «zutiefst zynisch, verwirrt und orientierungslos».
Während der Sowjetmensch noch an eine bessere Zukunft geglaubt habe, gebe es nun «keine Hoffnung mehr», die Macht sei diskreditiert, gelte «als korrupt und egoistisch», stelle sich über das Gesetz und behandle «die Menschen als austauschbares Material».
Die Zustimmung zum Krieg – und hier ist sich der russische Soziologe mit zahlreichen westlichen Beobachtern einig – werde erst angesichts der militärischen Niederlage sinken. Schon jetzt sehe man, dass Beschuss der Grenzregionen und russischer Militärbasen Wirkung zeige und es sogar in den offiziellen Medien Kritik an der Armeeführung gebe.