Das Schweigen des Präsidenten Putin überlässt schlechte Nachrichten lieber anderen

Von Dasha Litvinova, AP

19.11.2022 - 23:55

Menschen in Cherson stehen um Hilfsgüter an

Menschen in Cherson stehen um Hilfsgüter an

Die meisten Menschen in Cherson scheinen glücklich über die Rückeroberung der Stadt durch die ukrainische Armee, doch es gibt kaum fliessendes Wasser, vielerorts gibt es keinen Strom mehr – und bei den meisten ist zusätzlich die Heizung ausgefallen.

18.11.2022

Der russische Präsident verhält sich in jüngster Zeit auffallend schweigsam – zumindest, was für ihn ungünstige Entwicklungen in der Ukraine betrifft. Den Rückzug aus Cherson erwähnte er bislang mit keinem Wort.

DPA, Von Dasha Litvinova, AP

Als die russische Militärführung vor laufenden Kameras den Rückzug aus Cherson verkündete, fiel das Fehlen eines Mannes im Raum auf: des Präsidenten. Wladimir Putin besuchte währenddessen am 9. November eine neurologische Klinik in Moskau, wo er eine Hirnoperation verfolgte.

Später sprach er bei einer anderen Veranstaltung, erwähnte aber mit keinem Wort den für Russland demütigenden Truppenabzug aus der wichtigen Stadt im Süden der Ukraine. Auch in den folgenden Tagen äussert er sich nicht öffentlich dazu.

Putins Schweigen fällt in eine Zeit zunehmender Rückschläge für sein Land bei den seit fast neun Monaten andauernden Kämpfen. Der Präsident scheint für die Überbringung schlechter Nachrichten andere vorzuschicken – eine Taktik, die er schon während der Corona-Pandemie verfolgt hatte.

Cherson war die einzige Regionalhauptstadt, die die russischen Truppen in der Ukraine eingenommen hatten. Schon in den ersten Tagen der Invasion besetzten sie die Stadt und einen Grossteil der Region, die ein wichtiger Zugang zur Halbinsel Krim ist. Ende September annektierte Moskau illegal die Region Cherson sowie drei weitere ukrainische Provinzen.

Putin ignoriert russischen Abzug aus Cherson

Putin war persönlich Gastgeber einer pompösen Zeremonie in Kreml, bei der die Annexion im September formell festgeschrieben wurde. Er verkündete, die Bewohnerinnen und Bewohner von Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja würden «für immer» zu russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern.

Doch nur gut einen Monat später verschwanden die russischen Trikoloren wieder von Regierungsgebäuden in Cherson und wurden durch die gelb-blauen Flaggen der Ukraine ersetzt. Der Rückzug aus Cherson und Umgebung bis zum Ostufer des Dnjeprs (Dnipros) war nach russischen Militärangaben am 11. November abgeschlossen. Der Präsident hat den Abzug seitdem bei keinem seiner öffentlichen Auftritte erwähnt.

Über Niederlagen redet Russlands Präsident Wladimir Putin nicht gerne.
Über Niederlagen redet Russlands Präsident Wladimir Putin nicht gerne.
Bild: Sergei Savostyanov/Sputnik Kremlin/AP/dpa

Putin «lebt weiter in der alten Logik», schrieb die Politologin Tatjana Stanowaja kürzlich in einem Kommentar: «Das ist kein Krieg, es ist eine Spezialoperation, wichtige Entscheidungen werden von einem kleinen Kreis «Experten» getroffen, während der Präsident Abstand hält.» Dabei hatte Putin gerüchteweise einst persönlich den Militäreinsatz in der Ukraine beaufsichtigt und Generälen Befehle zu den Kämpfen erteilt. Doch in den vergangenen Tagen schien er sich auf alles andere als den Krieg zu konzentrieren.

Russischer Präsident verzichtet auf G20-Gipfel

Putin beriet stattdessen mit Regierungsvertretern über Insolvenzverfahren und Probleme der Autoindustrie, sprach mit einem sibirischen Gouverneur über die Förderung von Investitionen in dessen Region, telefonierte mit mehreren Staats- und Regierungschefs und traf sich mit dem neuen Präsidenten der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Am Dienstag leitete er ein Videotreffen über Kriegsdenkmäler. An diesem Tag war eigentlich eine Rede Putins beim G20-Gipfel in Indonesien erwartet worden – doch er verzichtete nicht nur auf eine Anreise, sondern auch auf eine Teilnahme per Videokonferenz und die Einreichung eines voraufgezeichneten Statements.

Der unabhängige Politikexperte Dmitri Oreschkin führt Putins Zurückhaltung auf die Tatsache zurück, dass der Präsident an einem politischen System nach sowjetischem Vorbild festhalte. Hier könne der Chef per Definition keine Fehler machen. «In Putins System werden für alle Niederlagen andere verantwortlich gemacht», erklärt Oreschkin. «Wenn er irgendwo verloren hat, ist das erstens unwahr, und zweitens ist es nicht seine Schuld.»

Putin-Anhänger vom Schweigen des Präsidenten irritiert

Putins Schweigen zu wichtigen Entwicklungen im Krieg stösst nun selbst bei einigen seiner Anhänger auf Unmut. Dass er sich nicht zum Rückzug aus Cherson geäussert habe, sei besorgniserregender als «die Tragödie von Cherson selbst», schrieb der Kreml-nahe Politologe Sergej Markow in einem Facebook-Post. Das Verhalten des Präsidenten sei eine «Demonstration eines totalen Rückzugs»

Andere versuchen, die Entwicklung positiv zu interpretieren und das auch Putin zuzuschreiben. Mit dem Rückzug habe der Präsident Menschenleben retten wollen, sagte der regierungstreue TV-Moderator Dmitri Kisseljow in seiner Nachrichtensendung am Sonntagabend.

Um Hardliner, die von den Ereignissen in Cherson nicht begeistert waren, zufriedenzustellen, verschärfte der Kreml nach Angaben von Oreschkin die Raketenangriffe auf das ukrainische Stromnetz. Millionen Menschen sassen am Dienstag im Dunkeln, nachdem Russland etwa 100 Raketen und Drohnen auf Ziele im ganzen Land abgefeuert hatte. Viel Wirbel um die Angriffe zu machen, sei aus Sicht der Regierung aus einem Grund notwendig, erklärt der Experte: um Putin weiter als siegreichen Führer dastehen zu lassen.