Organisierte Gräuel Der russische General und der Tod

Von Erika Kinetz, AP

28.10.2022 - 21:12

Das Massaker von Butscha soll laut Selenskyj erst der Anfang gewesen sein.
Das Massaker von Butscha soll laut Selenskyj erst der Anfang gewesen sein.
Vadim Ghirda/AP/dpa

Russische Gräueltaten in den frühen Wochen der Ukraine-Invasion waren nicht das Werk ausser Kontrolle geratener Soldaten. Wer und was steckte dahinter? Die Kernpunkte einer Untersuchung.

28.10.2022 - 21:12

Der russische Offizier, der hinter dem Lastwagen ging, war besonders wichtig – das konnte man sofort sehen. Hinter Zäunen positionierte Soldaten spähten zu seinem Schutz die Umgebung aus, ihre Gewehre in alle Richtungen schwenkend. Zwei Angriffshelikopter kreisten in der Luft, boten zusätzliche Sicherheit für diesen Mann – General Alexander Tschaiko.

An diesem Tag im März begleitete er im Dorf Sdwyschiwka in der nordöstlichen Ukraine einen Konvoi, der vom Schulhaus aus die Zentralna-Strasse entlang rollte. Das Gebäude diente den russischen Offizieren als Hauptquartier, von hier aus dirigierte Tschaiko Russlands Angriff auf Kiew.

Muster strategischer und organisierter Gewalt

Während der General den Konvoi eskortierte, wurden nicht weit davon entfernt im selben Dorf drei Männer in einem Garten von russischen Soldaten erschossen, nachdem man sie verhört und gefoltert hatte. Ihr Tod war indes nicht das Werk von Menschen, die inmitten der Brutalität des Krieges die Kontrolle über sich selbst verloren haben, aus dem Ruder gelaufen sind. Es war Teil eines Musters von strategischer und organisierter Gewalt gegen Zivilisten, wie eine Untersuchung seitens der Nachrichtenagentur AP und der Serie «Frontline» des US-Senders PBS zeigt.

Hunderte wurden geschlagen, gequält und exekutiert – in Gegenden, die unter strikter russischer Kontrolle, dem Kommando von General Tschaiko standen.

Truppen, die sich von Belarus aus in Richtung Kiew bewegten, hatten den Befehl erhalten, «nationalistischen Widerstand» zu stoppen und zu zerstören, wie aus Kopien russischer Kampfpläne hervorgeht, die vom Royal United Services Institute (Rusi), einer Londoner Denkfabrik, eingesehen wurden. Soldaten benutzten vom russischen Geheimdienst zusammengestellte Listen und führten «Säuberungsoperationen» durch, suchten Gegenden ab, um Jeden zu identifizieren und neutralisieren, der eine Bedrohung darstellen könnte.

Und der für diese Kriegsfront verantwortliche Mann war Tschaiko, weltweit berüchtigt wegen seiner Brutalität als Kommandeur der russischen Kräfte in Syrien. «Diese Befehle wurden auf Tschaikos Ebene geschrieben. Er hätte sie also gesehen und abgezeichnet», sagt Rusi-Forscher Jack Waitling, der AP Zugang zu den Kampfplänen gab.

Folter und Tod bei geringstem Verdacht

Waren diese Befehle nicht zwangsläufig illegal, wurden sie im Zuge des russischen Vormarsches in der Ukraine oft unter krasser Missachtung der Kriegsgesetze vollzogen. Zeugen und Überlebende in Butscha, Osera, Babynzi und Sdwyschiwka – alle Orte unter Tschaikos Kommando – sagten AP und «Frontline», dass russische Soldaten Menschen schon beim geringsten Verdacht einer Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Militär gefoltert und getötet hätten. Diese Operationen verstärkten sich mit der Zunahme präziser ukrainischer Angriffe auf russische Stellungen, wie Interviews und Videos zeigen.

Zudem wurden Telefongespräche mitgehört, in denen Soldaten Familienangehörigen sagten, dass man ihnen befohlen habe, gnadenlos gegen mutmassliche Informanten vorzugehen. 

Tschaiko ist bereits angeklagt

Die Ukraine hat Tschaiko unter dem breitangelegten Vorwurf der Aggression angeklagt, womit das Führen eines illegalen Krieges auf ihrem Territorium gemeint ist. Um ihn vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen, werden spezifischere Beweise nötig sein. Die Ankläger müssten nachweisen, dass er eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung gesetzwidriger Massnahmen Russlands spielte oder dass er gewusst haben muss, was seine Truppen taten und er ihr Verhalten hätte stoppen oder bestrafen können.

Gegenwärtig führt Tschaiko weiter Truppen an, ist erneut Befehlshaber der russischen Streitkräfte in Syrien.

Hier zusammengefasst vier Kernpunkte aus den Untersuchungen seitens AP und «Frontline»:

«Mama, ich töte Zivilisten»

Russische Soldaten sprachen in Telefonaten mit ihren Müttern, Ehefrauen und Freunden offen über Gräueltaten, die an Zivilisten verübt wurden. AP hat Abschriften der von der ukrainischen Regierung nahe Kiew aufgefangenen Gespräche eingesehen.

Am 21. März sagte ein Soldat namens Wadim seiner Mutter: «Wir haben den Befehl, Jedem das Telefon abzunehmen, und diejenigen, die sich widersetzen... Wir haben den Befehl: Es ist egal, ob sie Zivilisten sind oder nicht. Tötet Jeden.»

Die kleinste Bewegung eines Fenstervorhanges – ein mögliches Zeichen für die Anwesenheit eines Spähers oder Schützen – rechtfertigte es, einen Wohnblock mit tödlicher Artillerie anzugreifen. Ukrainer, die gestanden, russische Truppenkoordinaten weitergegeben zu haben, wurden kurzerhand erschossen, auch Teenager, wie Soldaten sagten.

«Wir haben den Befehl, keine Kriegsgefangenen zu machen, sondern sie alle direkt zu erschiessen», schilderte ein Soldat mit dem Spitznamen Ljonja in einem Telefonat am 14. März. «Da war ein Junge, 18 Jahre alt, gefangen genommen. Zuerst haben sie mit einem Maschinengewehr durch sein Bein geschossen. Dann wurden ihm die Ohren abgeschnitten. Er gestand alles ein und wurde erschossen», sagte Ljonja seiner Mutter. «Wir machen keine Gefangenen. Das heisst, wir lassen niemanden am Leben.»

Das Dossier Center, eine Investigativ-Gruppe in London finanziert vom russischen Exil-Oppositionellen Michail Chodorkowski, hat die Identität der jeweiligen Anrufer verifiziert.

Nach Gräueltaten von Butscha: «Ich möchte nicht in Kleinrussland leben»

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Der Kiewer Vorort Butscha ist zu einem Mahnmal für mutmassliche Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte in ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine geworden. Die Bewohner bemühen sich Wochen nach den schrecklichen Ereignissen um Normalität.

12.07.2022

Das Blutbad in Butscha

Ukrainische Staatsanwälte sagen, dass eine von Tschaiko befehligte Einheit am 4. März an einer tödlichen Säuberungsaktion an der Jablunska-Strasse im damals russisch besetzten Butscha bei Kiew teilnahm.

Das US-Aussenministerium hat im Juni diese Division und zwei weitere Einheiten wegen Gräueltaten in der Stadt mit Sanktionen belegt. Alle drei standen in den frühen Wochen der Invasion letztlich unter Tschaikos Kommando, wie ukrainische Stellen der AP sagten.

Folter und Tod in Sdwyschiwka

Russische Soldaten benutzten das Dorf – eine Autostunde von Kiew entfernt – als eine grössere vorgeschobene Operationsbasis für ihren Angriff auf die ukrainische Hauptstadt. Tschaiko befehligte ihn von hier aus zwischen dem 20. und 31. März. Augenzeugen zufolge wurden wiederholt gefesselte Zivilisten im Garten eines häufig von russischen Offizieren besuchten Hauses gefoltert und getötet, im hellen Tageslicht – wie jene anfangs erwähnten drei Männer, während sich Tschaiko nur einen Kilometer entfernt auf einer Strasse befand.

Lob statt Strafe

Es gibt keine Anzeichen dafür, dass es Tschaiko nicht recht war, was seine Untergebenen taten. Russlands Verteidigungsministerium veröffentlichte ein Video, in dem der General im März Soldaten in der Ukraine Orden anheftet. «Alle Einheiten, alle Divisionen handeln so, wie sie es gelehrt wurden», sagte er. «Sie machen alles richtig. Ich bin stolz auf sie.»

Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass Moskau Tschaiko für die sehr öffentlichen Gräueltaten unter seinem Kommando bestraft hat. Stattdessen lobte Präsident Wladimir Putin den General für dessen Aktionen in Syrien, verlieh ihm 2020 den Titel eines «russischen Helden» und beförderte ihn im Juni 2021 zum Generaloberst – in Russland der dritthöchste unter insgesamt fünf Generalsrängen.

Von Erika Kinetz, AP