Indien weitet Impfungen aus Ein Tropfen auf den heissen Stein

AP/toko

2.4.2021

Vorbereitung einer Impfung in Indien: «Wenn es nicht innerhalb weniger Monate zurückgeht, könnte es zu einem langfristigen Problem werden.»
Vorbereitung einer Impfung in Indien: «Wenn es nicht innerhalb weniger Monate zurückgeht, könnte es zu einem langfristigen Problem werden.»
KEYSTONE/EPA/RAJAT GUPTA

Seit Wochen kämpft Indien gegen einen drastischen Anstieg an Corona-Fällen. Doch eine Erweiterung der Impfungen hat Auswirkungen über die Landesgrenzen hinaus.

Im Sion-Krankenhaus in Mumbai ist kein Platz mehr frei – annähernd alle 500 Betten für Covid-19-Patienten sind belegt. Täglich treffen neue Patienten ein, sodass die Klinik jeden zweiten Tag neue Betten aufstellen muss, wie der Infektiologe Om Shrivastava sagt. In manchen Hospitälern in der indischen Megastadt seien die Wartelisten so unzumutbar lang, dass «die Belastung der Krankenhäuser nicht in Zahlen ausgedrückt» werden könne.

Szenen wie im Sion waren im vergangenen Jahr gang und gäbe in Indien. Damals war das Land scheinbar auf dem Weg, das schwerstbetroffene der Welt zu werden. Die Zahl der täglichen Corona-Fälle stieg fast auf 100'000. Dann gingen die Infektionen zum Erstaunen von Experten zurück. Seit Februar steigen sie wieder schneller als zuvor. Der Sieben-Tage-Durchschnitt erhöhte sich auf 59'000. Am Donnerstag meldete Indien mehr als 72'000 Fälle und damit den höchsten Stand seit sechs Monaten.



«Ich denke, es wird schlimmer werden (als vergangenes Jahr)», sagt Shrivastava. «Wenn es nicht innerhalb weniger Monate zurückgeht, könnte es zu einem langfristigen Problem werden.»

Nach Ansicht von Experten muss Indien dringend die Impfungen verstärken, die im Januar sehr langsam begonnen haben. Seit Donnerstag weitet die Regierung die Kampagne auf alle Menschen über 45 Jahren aus.

Doch eine Erweiterung der Impfungen hat Implikationen über die Landesgrenzen hinaus. Denn seit das Serum Institute of India, der weltgrösste Hersteller von Impfstoffen und wichtige Versorger, verstärkt für den inländischen Bedarf produziert, kam es bei globalen Lieferungen im Rahmen des UN-gestützten Covax-Programms zu Verzögerungen bei bis zu 90 Millionen Impfdosen. Die Covax-Initiative soll Ländern unabhängig von ihrem Wohlstand Zugang zu Vakzinen sichern.

Die Verzögerungen könnten weltweit negative Konsequenzen haben. Denn sie werfen auch die Versorgung von ärmeren Ländern wie Nepal und Indonesien zurück, die von indischen Exporten abhängig sind. Zudem ist auch der Anstieg der Fälle in Indien nach Ansicht von Gesundheitsexperten ein globales Problem. Das Land hat nämlich bisher mehr Impfstoffe – 64 Millionen Dosen – exportiert als an die eigene Bevölkerung verteilt (62 Millionen), wie offiziellen Zahlen zu entnehmen ist.

Die Vakzine müssten unabhängig vom Produktionsort dorthin geschickt werden, «wo die Kurve nach oben zeigt», fordert Bhramar Mukherjee, Biostatistiker an der Universität von Michigan, der sich mit der Pandemie in Indien beschäftigt. Und auf das Land trifft die Bedingung zweifellos zu: Fast alle der insgesamt 28 Unionsstaaten verzeichnen einen Anstieg.

Mehr als 78 Prozent der insgesamt zwölf Millionen Fälle, der dritthöchsten Zahl weltweit, kommen aus sechs Staaten. Die Zahl hat sich in weniger als zwei Monaten mehr als versechsfacht. Auch die Zahl der Todesfälle nimmt zu – ein nachgelagerter Indikator in der Pandemie, der auf die Zahl der Krankenhausbehandlungen folgt. Am schwersten betroffen ist der Staat Maharashtra, in dem Mumbai liegt, mit 60 Prozent der täglichen und einem etwa ebenso hohen Anteil der aktiven Fälle.

Nach einem zehrenden Lockdown und dem Rückgang der Fälle ist das Leben in Indien mancherorts zur Normalität zurückgekehrt. Auf den Märkten drängen sich die Menschen, Politiker veranstalten bei Kommunalwahlen grosse Kundgebungen, und zu einer religiösen Versammlung im Staat Uttarakhand werden im April Hunderttausende Gläubige erwartet.

Der internationale Reiseverkehr lief ebenfalls in grossem Umfang wieder an, was die als besonders gefährlich geltenden Virusmutanten aus Grossbritannien, Südafrika und Brasilien ins Land schleuste. Zudem bestätigte Indien auch im eigenen Land eine neue und potenziell besorgniserregende Variante. Inwieweit die Mutanten zum Anstieg beitrugen, ist nach Angaben von Experten noch nicht klar.

Die neuen Infektionen weckten auch Zweifel an der Herdenimmunität, auf die manche den vorherigen Rückgang der Fälle zurückgeführt hatten. Die jüngste serologische Befragung hatte ergeben, dass 21,4 Prozent der Erwachsenen vor Beginn der Impfungen im Januar infiziert waren – ein Hinweis darauf, dass ein grosser Teil der insgesamt fast 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner noch gefährdet ist.



K Srinath Reddy, Präsident der Öffentlichen Gesundheitsstiftung Indiens, spricht von einem «perfekten Sturm aus sorglosem Verhalten der Menschenmassen, Laxheit in der Wachsamkeit der Regierung und einer irreführenden Vorstellung von Herdenimmunität. Das Virus ist durch Einfallstore gekommen, die weit offen gelassen waren», sagt er.

Bislang haben 62 Millionen Inderinnen und Inder zumindest die erste Impfung bekommen, aber nur neun Millionen bereits beide. Zuletzt nahm die Kampagne an Fahrt auf, in der vergangenen Woche wurden täglich etwa 2,2 Millionen Dosen gespritzt.

Das sei jedoch nur ein Tropfen auf den heissen Stein, beklagt der Mikrobiologe N. K. Ganguly, ehemaliger Direktor des Indischen Rats für Medizinforschung. Um das Ziel zu erreichen, bis Sommer 300 Millionen Menschen zu impfen, müsse Indien viel schneller werden.

Dass sich die Probleme bei der globalen Belieferung bislang grösstenteils auf Indien konzentriert hätten, sei unfair, sagt Krishna Udayakumar, Direktor des Duke-Innovationszentrums für Weltgesundheit. Er verweist auf das Vorgehen reicherer Staaten: «Indien folgt dem Beispiel anderer Länder und Regionen, darunter die USA und die EU, indem es den einheimischen Bedarf mit Vorrang behandelt.»