Kaum Aussicht auf Brexit-Besserung «Ein verdammter Albtraum»

dpa/toko

1.1.2022 - 00:00

Ausser Betrieb: Zapfsäulen an einer Tankstelle in Manchester.
Ausser Betrieb: Zapfsäulen an einer Tankstelle in Manchester.
Jon Super/AP/dpa

Vor einem Jahr löste Grossbritannien auch wirtschaftlich die Bande mit der EU. Premierminister Johnson und seine Regierung propagieren den Weg zu einer eigenständigen Handelsnation, die ohne die Fesseln der EU am Tisch der Grossen mitmischt. Stimmt das?

1.1.2022 - 00:00

Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass auch Donald Trump die Folgen des Brexits spürt. Der frühere US-Präsident hatte den britischen EU-Austritt bejubelt und verteidigt. Nun leidet auch sein Luxus-Golfhotel Trump Turnberry in Schottland. Der Jahresbericht liest sich wie eine Zusammenfassung der Brexit-Sorgen: fehlende Arbeitskräfte wegen eines Mangels an EU-Beschäftigten, dafür höhere Kosten wegen gestiegener Zoll- und Transportgebühren. Genau das sind die Probleme vieler Unternehmen, europäischer wie britischer, ein Jahr, nachdem Grossbritannien am 1. Januar 2021 auch wirtschaftlich die Bande mit der EU gelöst hat.

Billige Arbeitskräfte fehlen

Teurer und aufwendiger: Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine Branche ihre Brexit-Sorgen publik macht. Zuvorderst merkt es der britische Arbeitsmarkt. Weit mehr als eine Million freie Stellen gibt es dort. Doch worüber Finanzminister Rishi Sunak jubelt, sorgt in Supermärkten, an Tankstellen und auf Bauernhöfen für Probleme.

Weil billige Arbeitskräfte aus EU-Ländern wie Polen, Rumänien oder Litauen weg bleiben, da seit dem Brexit hohe Gebühren für Arbeitsvisa fällig werden, fehlen nun Lastwagenfahrer – Regale und zeitweise Zapfsäulen blieben leer, Nachschub fehlte. Schweinebauern mussten Tausende gesunde Tiere keulen, weil in den Schlachthöfen zu wenig Metzger arbeiten. 200'000 EU-Bürger sind Schätzungen zufolge dauerhaft abgewandert. Um Lücken zu stopfen, erteilt die Regierung immer wieder neuen Berufsgruppen Ausnahmen für Arbeitsvisa.

«Brexit» auf dem Index

Das Wort «Brexit» aber scheint in der Downing Street auf dem Index zu stehen. Premierminister Boris Johnson und sein Kabinett streiten regelmässig ab, dass der EU-Austritt für die Probleme verantwortlich ist. Vielmehr beharren sie darauf, dass Grossbritannien wie viele andere Länder von den Pandemie-Folgen getroffen werde. An einer Brexit-Aufarbeitung habe die Regierung kein Interesse, sagt Ulrich Hoppe, Chef der Deutsch-Britischen Handelskammer in London. Im Gegenteil: Stattdessen werde jede positive Nachricht als Resultat des Brexits und der Freiheit vom regulativen Rahmenwerk der EU verkauft.

Streitet immer wieder ab, dass der Brexit für die Probleme im Land verantwortlich ist: Premierminister Boris Johnson.
Streitet immer wieder ab, dass der Brexit für die Probleme im Land verantwortlich ist: Premierminister Boris Johnson.
Geoff Pugh/Daily Telegraph/PA Wire/dpa

«Der Brexit ist ein verdammter Albtraum»

Dabei gäbe es einiges zu diskutieren. Der bilaterale Handel mit der EU ist längst eingebrochen. Die Denkfabrik Center for European Reform hat errechnet, dass der britische Warenhandel im Oktober 2021 um 15,7 Prozent oder 12,6 Milliarden Pfund (knapp 15 Mrd Euro) niedriger war als er im Falle eines britischen Verbleibs im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion gewesen wäre. Das wirkt sich auf die Wirtschaftskraft aus. Die Aufsichtsbehörde Office for Budget Responsibility (OBR) kommt zu dem Schluss, der EU-Austritt werde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 4 Prozent verringern. Heruntergebrochen bedeutet das laut AHK-Chef Hoppe, dass jeder Brite ein Jahr länger arbeiten muss. «Der Brexit ist ein verdammter Albtraum», schimpft ein Verantwortlicher einer wichtigen englischen Hafenstadt hinter vorgehaltener Hand.



Noch immer sei unklar, wie die britische Regierung das Vereinigte Königreich im internationalen Wettbewerb positionieren will, kritisiert Aussenhandelsexperte Marc Lehnfeld von der bundeseigenen Gesellschaft GTAI. Die EU bleibt der wichtigste Markt, der angepeilte Handelsvertrag mit den USA ist auch wegen politischer Streitigkeiten um Nordirland in weiter Ferne.

So behilft sich die Regierung oft mit Gesten. So gilt die traditionelle Eichmarke Crown Stamp, von der EU verboten, wieder als Mass. Ebenso wird die ausschliessliche Kennzeichnung von Lebensmitteln mit alten Gewichtseinheiten wie Pfund und Unzen gestattet. Doch über die Grenze geblickt, erschwert Bürokratie weiterhin das Miteinander: «Überwiegend sehen Verbände und Unternehmen die EU-Nachfolger von EU REACH (UK REACH) und dem CE-Kennzeichen (UKCA) als grosse Doppelbelastung, bleibt doch die EU ein wichtiger Absatzmarkt», stellt Aussenhandelsexperte Lehnfeld fest.

Tropfen auf den heissen Stein

Jüngst bejubelte Premierminister Johnson ein Freihandelsabkommen mit Australien, es ist der erste Deal, den London nach dem Brexit vollkommen neu ausgehandelt hat. Im Vergleich zu den Einbussen im EU-Handel gilt der Vertrag aber eher als Tropfen auf den heissen Stein. Und selbst die BBC kommentierte: «Das Vereinigte Königreich hat Australien beim Zugang zum britischen Agrarmarkt fast alles gegeben, was es wollte. Anderen grossen Volkswirtschaften wird das nicht entgehen, und sie werden ähnlichen Zugang fordern.» Beschwerden kommen von britischen Farmern, die billige Fleischimporte fürchten.



Es ist aber nicht alles düster. Lehnfeld und Hoppe betonen, dass Grossbritannien ein wichtiger Markt bleibe. In einigen Bereichen agiert die britische Regierung pragmatisch, so dürfen nun doch Warenlieferanten visafrei einreisen und etwa Maschinen oder Küchen aus der EU installieren. Die günstigere Dividendenbesteuerung zieht Unternehmen an, jüngst entschied sich Shell für Grossbritannien als Hauptquartier. Bei Offshore-Windkraft und grünem Wasserstoff bleibt Grossbritannien das Mass der Dinge.

Und auch wenn Grossbritannien kurz davor steht, erstmals aus den Top Ten der deutschen Aussenhandelspartner rauszufallen – beim Export steht das Königreich auf einem soliden fünften Platz. Experten fragen sich aber angesichts neuer Einfuhrkontrollen, die London zum 1. Januar angekündigt hat, wie lange das noch gelten wird.

dpa/toko