Glacé, Panzer, Luftalarm Kiew und die Suche nach Normalität im Krieg

SDA

30.7.2022 - 13:37

Frauen betrachten zerstörte russische Panzer auf dem Mykhailivskyi Platz in Kiew. Auch das ist Teil des Alltags geworden.
Frauen betrachten zerstörte russische Panzer auf dem Mykhailivskyi Platz in Kiew. Auch das ist Teil des Alltags geworden.
Bild: KEYSTONE

Wer dieser Tage durch Kiew geht, könnte vergessen, dass Krieg herrscht. Sind die Kontrollen an den Stadtgrenzen erst mal passiert, präsentiert sich die ukrainische Hauptstadt fast wie vor dem russischen Angriffskrieg. Eine Spurensuche.

Menschen flanieren durch die Strassen und essen Glacé, in Cafés treffen sich Jung und Alt, in Parks spielen Kinder neben picknickenden Eltern. Es scheint ein wenig so, als würden viele der rund 2,5 Millionen Kiewer die seit dem 24. Februar andauernde Invasion im städtischen Alltag am liebsten ignorieren – selbst wenn wieder einmal die Sirenen stundenlang vor drohenden Luftangriffen warnen. 

«Was sollen wir machen, uns wegen Putin weinend im Keller verschanzen? Dürfen wir nicht mehr lachen?», kontert eine junge Ukrainerin auf die für sie offenkundig überraschende Frage nach ihrer Angst im Alltag. Die Frau, die nach eigenen Angaben in Kiew studiert, wartet in einer Einkaufsstrasse unweit des Olympiastadions auf ihre Freunde und gibt sich betont gelassen. Spätestens wenn die Ukrainer aus Angst nicht mehr vor die Tür gingen, hätten die Russen gewonnen. «Sie greifen unsere Freiheit an, also zeigen wir ihnen, dass sie zwar das Land angreifen können, aber niemals unseren Freiheitsdrang.»

Eine Stadt der Gegensätze

Angesichts solcher Worte wundert es nicht, dass der Alltag in Kiew nur dann und dort ausbremst wird, wenn etwa die Sirenen vor Raketen warnen. Tierpark, Museen, Theater und Kinos haben geöffnet – wer Ablenkung und Zerstreuung will, muss nicht lange suchen.

In Kiew und Umgebung selbst gehört die Gegensätzlichkeit aber – auch das gehört zur Wahrheit – genauso in den Alltag wie die Besuche westlicher Politiker.

Etwa auf dem wenige Kilometer entfernten Michaelplatz, wo sich die Gegensätzlichkeit in Form von verrosteten Panzern und anderen Kriegsgeräten noch plastischer zeigt. Hier stellt die Regierung zerstörte russische Waffen zur Schau, im Hintergrund glänzt die goldene Kuppel des Michaelsklosters, dazwischen flanieren Familien mit kleinen Kindern in bunten T-Shirts und Sandalen. Die unwirkliche Szenerie ist aber nicht nur ein beliebtes Fotomotiv – die Trophäenschau dürfte auch zum Ziel haben, der zunehmend kriegsmüden Bevölkerung Zuversicht und Durchhaltevermögen zu vermitteln.

«Was für Perspektive gegen Russen?»

Und dies aus berechtigten Gründen: Beim Gang durch die Stadt sind längst nicht nur kämpferische Aussagen zu hören. Es gibt auch andere Töne, zweifelnde, die den Wunsch nach Frieden und einer Zukunftsperspektive offenlegen: «Wie lange soll der Krieg denn dauern? Was für eine Perspektive haben wir denn gegen die Russen?», sagt ein Mann mittleren Alters. Dass der Westen sich künftig derart einbringen werde, damit die Russen im Osten und Süden der Ukraine wieder zurückgedrängt werden könnten, sei leider nicht absehbar.

Dabei reagiert die Stadtbevölkerung bei Luftalarm längst teils sehr abgestumpft. Wenn die Sirenen erklingen, wird es mancherorts zwar sehr laut, auch schliessen Banken und einzelne Geschäfte, das normale Leben geht aber weiter. Filmvorführungen werden erst abgebrochen, wenn der Alarm länger als 30 Minuten dauert. Nicht einmal die U-Bahn als Hauptbombenschutz hat durchgängig geöffnet. Wer in einer Station in der Nacht Schutz suchen will, muss bei einem Diensthabenden anrufen.

«Wie lange soll der Krieg denn dauern? Was für eine Perspektive haben wir denn gegen die Russen?»

Dass die Abstumpfung aber auch eine Gefahr darstellt, zeigt sich leider auch immer wieder. Erst am Donnerstag schlagen nördlich der Stadt Raketen ein – es gibt Verletzte. Ende Juni machen Schlagzeilen die Runde, dass ein neunstöckiges Wohnhaus und das Gelände eines Kindergartens von Raketen getroffen wurden.

Situation in Vororten eine gänzlich andere

Ohnehin – auch das sieht man bei der Fahrt durch Kiew – ist die Situation in den Vororten eine gänzlich andere. So sind etwa in Irpin, Hostomel und Butscha im Nordwesten die Spuren der Zerstörung allgegenwärtig. An den Parkplätzen der Ausfallstrassen stapeln sich Autowracks, meist ausgebrannt und mit Einschusslöchern, an Häusern fehlen Fensterscheiben, die Wände schwarz vor Russ, es riecht noch immer nach verbranntem Gummi.

Ein Grossteil der Menschen, denen die Flucht gelungen ist, können auch Monate nach dem Abzug der Russen nicht zurück, weil die Häuser meist unbewohnbar sind.

Doch auch hier sucht sich das normale Leben wieder seinen Weg – Kinder spielen auf den Resten von Spielplätzen, Frauen schieben Kinderwagen an Sandsäcken und Strassensperren vorbei. Anders als in Kiew selbst ist die Stimmung schon angesichts der Zerstörung eine ganz andere. Die Menschen wirken verängstigt und wollen sich gegenüber Journalisten nicht wirklich äussern.

SDA/aka

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